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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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bestanden. Auch jede Blume bestand aus kunstvoll geformten Schriftzügen. Er sollte später noch öfter von diesem Traum erzählen, nicht nur, weil er die Ankündigung eines neuen Lebens war, sondern auch, weil er seit dem Tag keine bunten Schriften mehr mochte und nur noch die schwarze Farbe liebte.
    Aber der Traum ging noch weiter. Irgendwo hinter ihm rief jemand seinen Namen. Hamid drehte sich kurz um und ging weiter. Er beachtete einige Baumwurzeln nicht, die aus dem Boden ragten, stolperte und wachte auf.
    Sein Vater stand vor der Kammertür.
    Hamid griff nach seiner Nase und seinen Ohren und war erleichtert, dass die Ratten ihm geglaubt hatten.
    »Komm raus und schreib das Gedicht noch einmal«, befahl er ihm. Erst später sollte Hamid den Grund dieser Einsicht erfahren. Der reicheKino- und Theaterbesitzer, für den sein Vater eine Serie von Plakaten anfertigte, hatte ihm erzählt, dass es immer wieder Talente gebe, die man nicht begreife. Er habe am Vortag in seinem Theater einen bettelarmen Jungen gehört, der die alten Lieder besser singen und die Laute sauberer spielen würde als die Mehrheit dieser Esel, die im schwarzen Anzug herumlaufen und sich Musiker nennen.
    Hamids rechtes Auge schmerzte fürchterlich und Siham lachte über sein Aussehen: »Du siehst wie unser Nachbar Mahmud aus«, rief sie, um ihn zu ärgern. Mahmud war ein Trinker, der oft in Schlägereien verwickelt war und immer Spuren davon trug. Siham rief so lange vom Innenhof aus: »Mahmud, Mahmud«, bis eine Ohrfeige sie ereilte, da jammerte sie dann und zog sich ins Schlafzimmer zurück.
    Sein Vater gab ihm ein Papier von bester Qualität und eine Rohfeder. »Setz dich hin und schreib«, sagte er, als Hamid das Blatt streichelte. Die neue Rohrfeder war viel besser als seine, die er sich mit dem Küchenmesser aus einem Schilfrohr geschnitten hatte. Sie lag gut in der Hand und ihre Schreibspitze war messerscharf.
    Nur, sein Vater stand zu dicht bei ihm.
    »Vater, ich bitte Euch, zwei Schritte zurückzutreten«, sagte er, ohne zu ihm aufzublicken. Nie zuvor und nie danach sprach er seinen Vater in der Ihr-Form an. Lange Jahre danach wurde ihm klar, dass genau dieser kurze Augenblick seine Zukunft als Kalligraph bestimmt hatte. Und während er sprach, schaute er auf das scharfe Schustermesser, mit dem sein Vater die Rohrfeder zurechtgeschnitten hatte. Es lag auf dem Tisch neben dem Tintenfass. Wenn sein Vater ihn noch einmal grundlos schlagen sollte, nahm er sich vor, würde er ihm das Messer in den Bauch rammen.
    Wie benommen trat sein Vater zwei Schritte zurück, und Hamid schrieb zügig das Gedicht. Jahrelang hatte er beobachtet, wie sein Vater seine Kalligraphien anfertigte, und hatte nie verstanden, warum dieser in allem, was er schrieb, zögerte, Fehler machte, die Tinte ableckte, die restlichen Spuren mit einem Messer abkratzte, dann die Stelle anfeuchtete und mit einem kleinen Stück Marmor glatt walzte, trocknen ließ und noch einmal glatt rieb.
    Manchmal zerstörte er dabei das Papier und fluchte, weil er nun alles wiederholen musste.
    Hamid betrachtete den Spruch ein letztes Mal mit zusammengekniffenen Augen. Nur so konnte er das Verhältnis von Schwarz zu Weiß genau einschätzen, ohne an den Buchstaben hängen zu bleiben. Er atmete erleichtert auf. Der Rhythmus stimmte, und das Ganze war noch schöner geworden.
    »Hier hast du das Gedicht«, sagte er. Seine Stimme klang nicht stolz, sondern trotzig. Sein Vater erstarrte, so schön konnte er selbst nicht schreiben. Die Schrift hatte etwas, was er immer gesucht und nie gefunden hatte: Musik. Die Buchstaben schienen einer Melodie zu folgen.
    »Das hast du durch Zufall so gut hingekriegt«, sagte er, als er die Fassung wiedererlangt hatte. »Schreibe mal: ›Deine Eltern sollst du verehren und ihnen sollst du dienen.‹ Wenn du kannst, in Diwani-Schrift.«
    »Du bleibst aber vom Tisch weg«, sagte Hamid, als er merkte, dass sein Vater im Begriff war näher zu rücken.
    »Wie du willst, aber schreibe, was ich dir diktiert habe.«
    Hamid nahm ein neues Blatt, tunkte die Feder in das silberne Tintenfass. Die Tinte seines Vaters stank moderig. Sein Leben lang sollte er daran denken und seinen Lehrlingen die Aufgabe auferlegen, täglich alle Tintenfässer in seinem Atelier umzurühren. Wenn man die Tinte nicht rührt, schimmelt sie. Man kann sie nicht mehr gebrauchen. Er gab in sein Fass immer einen Tropfen Kampferlösung. Der Geruch animierte ihn sehr. Andere Kalligraphen ließen ihre

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