Das Geheimnis Des Kalligraphen
Großmutter Farida, umgeben von einer großen Dienerschaft, aufgewachsen. Sie sprach wie ihr Vater vier Sprachen, Arabisch, Türkisch, Französisch und Englisch. Sie war die erste Muslimin, die dem syrischen Frauenliteraturclub beitrat, der 1922 von christlichen Frauen aus wohlhabenden Familien gegründet wurde. Unter der Führung seiner Präsidentin Madame Muschaka trat er dafür ein, Lesesäle für Frauen in den öffentlichen Bibliotheken einzurichten, die damals eine Domäne der Männer waren. Bald war Farida für die Korrespondenz und die Organisation von Lesungen zuständig. Sie lud Schriftstellerinnen aus aller Welt nach Damaskus ein. Stolz zeigte sie jedem Besucher die Briefe der englischen Autorin Agatha Christie, die auch einmal nach Damaskus gekommen und in Großmutters Salon aufgetreten war.
Und sie war unendlich stolz auf ihren aufgeklärten Vater, dessen Bild alle anderen Fotos in ihrem Salon überragte. Oft stand sie in Gedanken versunken vor ihm und schien ein Gespräch mit dem Verstorbenen, einem kleinen bärtigen Mann mit winzigen klugen Augen und großer Nase, zu führen. Er trug auf dem Bild seine feierliche Uniform und hatte den Kopf mit einem roten Fes bedeckt, wie das damals üblich war. Seine Brust war von den Schultern bis zum Gürtel mit großen achtstrahligen Sternen, diversen Kreuzen und an bunten Bändern hängenden Medaillons übersät. Der Mann wirkte auf Hamid komisch und mit all dem Metall in keiner Weise majestätisch, und hätte er nicht Angst vor der Großmutter gehabt, so hätte er ihr seine Meinung gesagt.
»Ein Affe in Uniform«, flüsterte Hamid den Satz, den er über so viele Jahre sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte.
Großmutter Farida gab den Besuchern immer das Gefühl, als würde sie ihnen eine kurze Audienz erlauben. Sie war schön, aber sehr überspannt. Hamid erinnerte sich nicht an eine einzige normale Antwort auf seine vielen Fragen. Wie damals kurz vor ihrem Tod, als er sie umeinen Schluck Wasser bat. »Das Wasser in den Augen des Geliebten«, antwortete sie und schaute in die Ferne, »kommt aus den Wolken seines Herzens.«
Großvater Hamid verehrte seine Frau Farida über alle Maßen, und sosehr er auch das lustige Leben liebte, war er ihr sein Leben lang treu und duldete all ihre Verrücktheiten. Und wenn er sie einmal im Jahr küsste, schimpfte sie mit ihm auf Französisch, rieb die Stelle so theatralisch, als wollte sie Fettspuren von ihrem Gesicht abwischen, und rückte ihr Kleid zurecht, als wäre der Großvater anzüglich geworden.
Als das Foto entstand, hatte die Großmutter nur Augen für Abbas, ihren jüngsten Sohn. Alle anderen waren Statisten in diesem Theaterstück, in dem sie und Abbas die Hauptrollen spielten. Sie versuchte alles, um jung zu erscheinen, was manchmal peinliche Züge annahm. Die alte Dame schminkte sich oft wie eine junge verruchte Frau, doch die Falten der Zeit ließen sich nicht vertreiben. Und das schief gemalte Rouge gab Faridas Gesicht den Anstrich eines alternden Clowns. Abbas aber verstand es, die Verrücktheit und Verliebtheit seiner Mutter auszunutzen. Er bestärkte sie bis zum Tag ihres Todes in allem, was sie tat, als hätte er weder Augen noch Ohren.
»Onkel Abbas, dieser Gockel«, flüsterte Hamid abfällig und betrachtete mit der Lupe den jungen, lachenden Mann, der als einziger auf dem Foto keinen Anzug trug, sondern eine elegante weiße Jacke über einem offenen dunklen Hemd. Seine Hand lag auf der Schulter der Mutter, die zu ihm aufschaute, als wäre er ihr Bräutigam.
Ein Jahr vor dem Tod des Großvaters bekam Farida hohes Fieber und starb plötzlich.
Und keine drei Jahre nach dem Tod des Großvaters hatte Onkel Abbas das Geschäft bereits ruiniert. Er verfiel dem Alkohol, flüchtete vor seinen Gläubigern aus Damaskus und starb als Bettler in Beirut. Er wurde dort anonym begraben, weil keiner die Leiche nach Damaskus transportieren wollte.
Hamids Vater war davon überzeugt, dass Gott alle seine Feinde niederschlug. Damals war er bereits im Bann der Mutter, sein Hirn war benebelt von Weihrauch und Aberglaube.
Merkwürdig, dachte Hamid immer wieder, wie seine Familie in der dritten Generation zugrundeging. Mit ihm würde der letzte Farsi in Damaskus sterben. Und wo? Im Gefängnis. Ein Wärter erzählte ihm, auch er sei die dritte Generation eines einst herrschenden Clans. Und wo sei er gelandet? Ebenfalls im Gefängnis. Das sei eine ewige Regel, sagte der Mann und hustete, die erste Generation würde
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