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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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auf-, die zweite aus- und die dritte abbauen.
    Hamids Blick wanderte noch einmal über das Foto. Was war aus seinen Tanten geworden? Er wusste es nicht. Großvater liebte keine von ihnen. Sie wollten seit dem Erbstreit nichts mehr mit der Familie zu tun haben. Auch die Versuche seiner Mutter, sie um sich zu scharen und einen Prozess anzustreben, waren gescheitert.
    Das Foto war in der Nähe des großen Brunnens aufgenommen worden, den der Großvater so liebte. Hamid erinnerte sich, dass er dort zum ersten Mal in seinem Leben Fische gesehen und bewundert hatte.
    Das Haus stand noch. Als Hamid es vor drei Jahren aufgesucht hatte, schien der Innenhof geschrumpft zu sein im Vergleich zu seiner Erinnerung. Der freundliche Hausbesitzer lud ihn zu einem Kaffee ein, als Hamid fragte, ob er das Haus seiner Kindheit noch einmal sehen dürfe.
    Von Familie Farsi wusste der Zollbeamte nichts. Er hatte das Haus über einen Makler erworben, der über die hochverschuldeten Vorbesitzer nicht sprechen wollte. Auch ihm habe das Haus Unglück gebracht, erzählte er, einer seiner Söhne habe sich beim Spiel auf dem Orangenbaum selbst stranguliert. Danach habe er alle Bäume gefällt. Jetzt wolle er das Haus verkaufen und im modernen Stadtteil eine geräumige Wohnung für sich, seine Frau und seine fünf Kinder kaufen. Ob Hamid interessiert sei?
    Nein, er wollte es nie wieder sehen.
     
    6.
     
    D er Donner rückte von der Stadt in Richtung Süden, und der Regen wurde noch heftiger. Das Licht flackerte. Hamid stand auf und zündete vorsichtshalber noch einmal die Kerze an.
    Er betrachtete seinen Vater, sein unbewegliches Gesicht. So hatte er bei den Beerdigungen der Großeltern dagesessen und so auch bei Hamids erster Hochzeit, mit einem Gesicht wie eine Maske aus gegerbtem Leder. Er trug sie immer. Ob er nun seine Kalligraphien anfertigte oder ob er seine Schuhe band.
    Hamid erinnerte sich an den einen Augenblick, als er dem Vater seine erste Kalligraphie gezeigt hatte. Er war neun oder zehn Jahre alt und hatte zuvor Jahre allein heimlich geübt. Er vergaß zu spielen und manchmal sogar zu essen, aber er verbrachte nicht einen Tag, ohne stundenlang zu üben.
    Der Vater geriet außer sich vor Zorn und Neid auf die Schönheit der Tulut-Schrift, mit der sein Sohn ein Gedicht geschrieben hatte. Hamid ahnte nicht, dass er die eleganteste und anspruchvollste Schrift gebraucht hatte. Nur Meister beherrschten sie. Sein Vater nicht.
    »Das hast du abgeschrieben«, sagte dieser abschätzig und kehrte zu seiner Arbeit an einem großen Kinoplakat für einen indischen Spielfilm zurück.
    Nein, das habe er selbst geschrieben, das Gedicht hätten sie in der Schule gelernt, und er habe es ihm schenken wollen!
    »Abgeschrieben«, sagte der Vater und legte seinen Pinsel zur Seite, mit dem er die großen Buchstaben auf dem Plakat ausfüllte, deren Konturen er bereits mit Tinte vorgezeichnet hatte. Er stand langsam auf und kam auf Hamid zu, und in dieser Minute wusste dieser, dass er geschlagen würde. Er versuchte seinen Kopf zu schützen. »Lügner«, schrie der Vater und schlug auf ihn ein. Aber Hamid wollte nicht lügen, um den Schlägen zu entkommen.
    »Ich habe es selbst geschrieben«, schrie er und bettelte um Gnade, dann rief er nach seiner Mutter. Sie erschien kurz in der Tür, schüttelte nur den Kopf und verschwand wortlos.
    »Das kannst du nicht, das kann nicht einmal ich«, sagte der Vater, »wo hast du das Gedicht abgeschrieben?« Und er schlug erbarmungslos zu.
    Ein Schlag hatte ihn aufs rechte Auge getroffen. Damals dachte er, er hätte es verloren, weil alles schwarz wurde.
     
    Hamid schüttelte den Kopf, während er das Gesicht des Vaters anstarrte. »Stumpfsinnig«, flüsterte er. Er sah sich in der kleinen dunklen Besenkammer sitzen. Seine Angst vor Ratten ließ ihn alle Schmerzen vergessen. Niemand tröstete ihn, niemand brachte ihm ein Stück Brot oder einen Schluck Wasser. Nur eine winzige Ratte streckte kurz ihren Kopf aus einem der Löcher, fiepte, schaute ihn mit melancholischen Augen an und verschwand.
    Er konnte in jener Nacht kaum schlafen, weil seine Mutter ihm erzählt hatte, dass Ratten am liebsten Nasen und Ohren der Kinder fressen, die lügen.
    »Ich habe nicht gelogen«, flüsterte er leise flehend, in der Hoffnung, die Ratten verstünden ihn.
    Erst in der Morgendämmerung nickte er ein und träumte, er würde in einem Dschungel umherwandern, dessen Bäume, Lianen und Büsche nur aus verschieden großen bunten Buchstaben

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