Das Geheimnis Des Kalligraphen
statt zum Großvater in die Lehre zu gehen. Er soll gesagt haben: »Dieser Unnutz Ahmad hat mir dreimal das Herz gebrochen: er heiratete gegen meinen Willen, weigert sich, mein Geschäft zu übernehmen, und verbietet meinem liebsten Enkel, Teppichhändler zu werden. Jetzt reicht es.«
Was auch immer der wahre Grund gewesen sein mag, Hamids Vaterging so gut wie leer aus. Er wollte aber keinen Skandal hervorrufen, um das Gesicht der Familie Farsi zu wahren. Er beobachtete mit Genugtuung, wie beide Brüder unglücklich wurden und am Ende elend zugrunde gingen. Er empfand es als besondere Erhabenheit, dass nicht er sich, sondern Gott ihn gerächt hatte.
Baschir, der ältere der beiden Onkel, erkrankte kurz nach dem Tod des Großvaters an Muskelschwund. Bald konnte er nicht mehr gehen und fluchte Tag und Nacht auf seine Frau, die ihn quälte. Hamids Vater weigerte sich, seinen schwer kranken Bruder zu besuchen, obwohl das Haus nicht einmal hundert Meter entfernt von seiner Gasse lag.
Der Anblick war furchtbar. Der Onkel saß auf einer schäbigen Matratze mitten im Müll. Das Haus war heruntergekommen, und die Frau war entweder unterwegs oder gerade im Begriff wegzugehen, wenn Hamid seinen Onkel besuchen wollte. Sie sah nicht schön aus, weshalb sie sich sehr raffiniert schminkte, aber sie besaß einen betörenden Körper und duftete immer nach einem exotischen Parfum namens »Soir de Paris«. Einmal nahm Hamid eine der kleinen blauen Flaschen mit, die im Badezimmer unter dem großen Spiegel standen. Immer wenn er daran roch, erinnerte er sich an seine Tante.
Er schlich, ohne dass seine Eltern es wussten, immer wieder zu Onkel Baschir. Nicht aus Mitleid, wie er seiner Schwester beteuerte, sondern weil ihn der Onkel faszinierte. Der konnte von seinem Platz aus seine Frau durch die Gassen in fremde Häuser verfolgen, wo sie sich den verschiedensten Männern hingab, um an bunte Kleider, Schmuck und Parfum zu kommen.
Es waren schaurige erotische Abenteuergeschichten, die der Onkel von sich gab. Aber er erzählte sie so, als wäre die Tante nicht seine Frau, sondern die Heldin einer Geschichte. Er erzählte begeistert von ihren Abenteuern und war voller Sorge, wenn sie in Gefahr geriet entführt zu werden oder wenn sie von einem eifersüchtigen Liebhaber mit dem Messer bedroht wurde.
»Sobald sie aus der Tür geht, ist sie die Heldin meiner Geschichte«, sagte der Onkel, als Hamid eines Tages fragte, warum er sich so freue, wenn seine Frau in seiner Erzählung andere Männer liebe und Weintrinke, während er gerade noch mit ihr geschimpft hatte, weil sie ihm nichts Warmes kochen wollte.
»Hier ist sie meine Frau und hier bereitet sie mir die Hölle.«
Nicht ein einziges Mal wiederholte er eine Geschichte, und wenn er merkte, dass seine Worte Hamid erregten, hörte er mittendrin auf. »Schluss für heute. Es ist eine Sünde, geil auf die eigene Tante zu werden. Geh nach Hause und komm erst wieder, wenn du sie vergessen hast.«
Hamid kam natürlich am nächsten Tag und tat wieder ganz unschuldig, um mehr von ihren Abenteuern zu hören.
Hamid ging mit dem Gesicht näher an das Foto. Er betrachtete Onkel Baschir genau, der mit geschwellter Brust und strahlend wie ein Held hinter der Großmutter stand und selbstsicher und verwegen lachte. Was für ein schwaches Wesen war doch der Mensch. Ein Virus, eine falsche Schaltung im Hirn – und schon wurde der Held zu einem Haufen Elend.
5.
H amid ließ den Blick zur Großmutter weiterwandern. Sie saß nicht, wie es damals üblich war, auf einem Stuhl neben ihrem Mann, sondern allein auf einer Bank. Ein Blumenstrauß lag neben ihr, wie um anzudeuten, dass niemand neben ihr sitzen solle. Es war ihr Geburtstag. Sie war eine Tochter des herrschaftlichen Damaszener Clans al Abed und liebte Blumen und Gedichte. Ihr Vater Ahmad Isat Pascha al Abed war der beste Freund und Berater des osmanischen Sultans Abdulhamid.
Großmutter verehrte den osmanischen Sultan und hasste alles, was Republik hieß. Deshalb verstand sie sich auch nicht mit ihrem Bruder Muhammad Ali al Abed, der als fanatischer Anhänger des osmanischen Reichs durch die Vermittlung ihres Vaters zum Botschafter des Sultans in Amerika ernannt wurde, dann über Nacht umschwenkteund den glühenden Republikaner spielte. Er wurde erster syrischer Staatspräsident.
Ahmad Isat war steinreich und ließ sich von einem spanischen Architekten ein wunderschönes Haus am Märtyrerplatz im Zentrum der Stadt errichten. Dort war
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