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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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Tinte nach Jasmin, Rosen oder Orangenblüten duften.
     
    Unter dem strengen Blick seines Vaters überlegte er kurz, dann schloss er die Augen, bis er die Form fand, die am besten zu den Worten passte: eine Meereswelle.
    Dann schrieb er entschlossen den Spruch, und man hätte meinen können, die Buchstaben bildeten eine sich überschlagende Meereswelle.
    »Das muss ich Meister Serani zeigen«, rief der Vater aus. So hörteHamid den Namen des größten syrischen Kalligraphen zum ersten Mal.
    Sein Vater umarmte ihn plötzlich, küsste ihn und weinte: »Gott hat dir alles gegeben, was ich mir wünschte. Warum, das weiß nur er, aber ich bin stolz auf dich. Du bist mein Sohn.«
    Endlich kam der ersehnte Tag, an dem Serani sie empfangen konnte. Hamid durfte zum ersten Mal einen Anzug tragen. Es war ein heller, sommerlicher Anzug, den sein Vater in einem der besten Kleidergeschäfte im Suk al Hamidije gekauft hatte. Oder vielmehr getauscht hatte, denn er zahlte kein Geld, sondern einigte sich mit dem Mann, dass er ihm für den Anzug ein neues Schild für das Geschäft malen würde. Das alte hatte bereits fünfzig Jahre auf dem Buckel und war an mehreren Stellen abgeblättert und kaum noch zu entziffern.
    »Wie lange musst du dafür arbeiten?«, fragte Hamid seinen Vater auf dem Rückweg.
    »Eine Woche«, sagte sein Vater. Hamid warf einen Blick zurück auf das Schild und dann auf den Anzug in der großen Tüte, die er trug, und schüttelte den Kopf. Er schwor, wenn er so alt sein würde wie sein Vater, würde er für einen Anzug nicht einmal einen Tag arbeiten.
    Meister Serani besaß ein großes Atelier in der Nähe der Omaijaden-Moschee, in dem er drei Gesellen und fünf Helfer sowie zwei Laufburschen beschäftigte.
    An jenem Tag hatte Hamid erkannt, wie unbedeutend sein Vater war. Zweimal stand dieser bereits vor dem Atelier des Meisters Serani und beide Male wagte er nicht einzutreten, sondern machte kehrt. Seine Hände schwitzten und erst beim dritten Anlauf wagte er die Tür zu öffnen und untertänig zu grüßen.
    Dann stand er gebeugt vor dem auf seinem großen Stuhl thronenden Meister. Serani war eher klein von Gestalt. Seine schütteren Haare hatte er sorgfältig gekämmt, und sein schmaler, gerade geschnittener Schnurrbart gab seinem Gesicht einen Hauch Traurigkeit, doch die Augen waren hellwach. Niemand besaß einen solchen Blick, der Traurigkeit, Klugheit und Angst in sich vereinte. Seinen ersten Eindrucksollte Hamid später oft bestätigt sehen. Meister Serani lachte selten, war streng religiös und höflich zurückhaltend, und wenn er sprach, waren seine Worte eines Philosophen würdig.
    Nur eine Äußerlichkeit wirkte komisch für Hamid, das rechte abstehende Ohr war fast doppelt so groß wie das linke, und es sah aus, als ob jemand den Meister ohne Unterlass am Ohr gezogen hätte.
    »Was führt dich zu mir, Ahmad?«, fragte Serani nach einer kurzen Erwiderung des Grußes. Seine Stimme war höflich und leise, dabei aber bemüht, unfreundlich und abweisend zu wirken.
    Meister Serani und sein Vater waren einst Lehrlinge bei dem berühmten Kalligraphen Mamduh al Scharif gewesen. Sie hatten sich nie gemocht.
    Hamids Vater wollte schnell Geld verdienen und schied bald aus. Er begnügte sich mit kommerziellen Kalligraphien, die mehr auf Effekt und Farbigkeit als auf Kunst zielten. Serani jedoch blieb über ein Jahrzehnt Meisterschüler bei al Scharif, bis er alle Geheimnisse der Schrift erkundet hatte. Sein Ruf war bereits Mitte der zwanziger Jahre bis nach Istanbul und Kairo gedrungen, wo er wichtige Aufträge für die Restaurierung von historischen Kunstwerken, Moscheen oder Palästen erhielt.
    »Es geht um meinen Sohn Hamid«, sagte der Vater.
    Meister Serani betrachtete lange den kleinen dürren Jungen. Hamid scheute den Blick des Meisters nicht und hielt ihm stand. Es war wie eine Prüfung, und Hamid konnte Meister Serani offensichtlich überzeugen. Sein Blick wurde milder, der Hauch von einem Lächeln überzog das gütige schmale Gesicht des damals sechsunddreißigjährigen Mannes, der aber wie ein Fünfzigjähriger aussah: »Dann zeige mir, was du kannst, mein Kleiner«, sprach er mit sanfter Stimme, stand auf und holte aus einem Schrank eine Rohrfeder.
    »Welche Schrift magst du?«, fragte Serani.
    »Tulut, Meister«, antwortete Hamid leise.
    »Dann schreibe mir den Satz, mit dem alles anfängt«, sagte Serani. Es war der meistkalligraphierte Satz der arabischen Sprache. Alle Gebete, Bücher, Briefe,

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