Das Geheimnis Des Kalligraphen
Reden, Gesetzbücher und Schriften der Muslime – gleich ob sie Araber oder Nichtaraber waren – begannen mit ihm: Bismillahi ar rahmani ar rahim . Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.
Hamid schloss die Augen. Hunderte von Varianten dieses Spruches rasten durch seine Erinnerung, doch er fand keine, die ihm gefiel. Er wusste nicht, wie lange er nachgedacht hatte, als er die leise Stimme seines Vaters hörte: »Mach schon, der Meister hat nicht die Zeit der Ewi ... «. Anscheinend sah der Meister ihn zornig an, denn es wurde wieder still. Etwa ein Jahr später hörte Hamid mit großer Freude den Meister sagen, erst wenn die Kalligraphie als klares Bild im Kopf erscheine, könne die Hand sie ausführen.
Hamid fand endlich die Form, die in der Tulut-Schrift den musikalischen Klang der Betenden zum Ausdruck bringen konnte. Die Wörter erhielten akkordeongleich eine melodische Dehnung oder Pressung. Er öffnete die Augen und begann zu schreiben. Jedes Wort in einem Zug, dann tauchte er kurz die Feder in das Tintenfass und schrieb weiter. Die Tinte duftete angenehm nach Zitronenblüte. Meister Serani liebte diese kleine Blüte, die in Damaskus destilliert wurde.
Als Hamid zu Ende geschrieben hatte, nahm der Meister das Blatt an sich, prüfte es genau und sah den Jungen an. Er fragte sich, wie eine Distel eine solche Blüte zur Welt bringen konnte, und war erneut davon überzeugt, dass Gottes Wille unergründlich war.
»Schreibe deinen Namen unten links hin und das Datum nach islamischer Zeitrechnung, und in einem Jahr werden wir sehen, welchen Fortschritt du gemacht haben wirst.«
Das war eine Anstellung. Sein Vater weinte vor Freude. Für Hamid war sie in jeder Hinsicht eine Gnade, denn von nun an war sein Vater freundlicher zu ihm. Er musste beim Meister vom ersten Tag an nicht nur die Schreibtechnik und Rezepte für Tinte lernen, sondern auch, wie man Rohrfedern zuschneidet. Außerdem Geometrie, Symmetrie sowie Perspektive, Licht und Schatten, Harmonielehre und andere wichtige Voraussetzungen. Vor allem aber musste er die Geschichte der Kalligraphie und alle Arten der arabischen Schrift gründlich studieren. Und wenn er eine kurze Pause hatte, gab ihm der Meister den Koran oder einen Sammelband mit arabischer Dichtung und sagte: »Entdecke die geheimen Früchte der Sprache.«
7.
S erani war unter den Kalligraphen bekannt dafür, dass er kein Lob aussprach, aber er war der höflichste Mensch auf Erden. Sein Atelier glich einem Bienenstock. Neben Gesellen, Mitarbeitern, Laufburschen und Kunden kamen jeden Sommer zwei bis drei Söhne der reichsten Familien zu ihm, um eine Einführung in die Kunst der Kalligraphie zu erhalten. Es gehörte damals zum guten Ton, dass Söhne nicht nur exzellent reiten konnten, sondern auch die arabische Schrift vollendet beherrschten.
Hamid lernte begierig und sein Meister war gnädig bei offensichtlichen Fehlern, doch unversöhnlich bei versteckten und retuschierten Mängeln. Vor allem das Kratzen verachtete der Meister. »Was sich nicht abschlecken lässt, muss wiederholt werden«, lehrte er. Serani kratzte nie einen Fehler mit dem scharfen Messer weg. Er schleckte aber blitzschnell die frische Tinte vom Papier weg, wenn er einen Fehler bemerkte. Erst war Hamid schockiert und angeekelt, dass nicht nur sein Meister, sondern alle Gesellen Tinte ableckten, aber bald lernte er beim heimlichen Üben, dass Ablecken der beste und schnellste Weg war, Fehler auszutilgen. Jahre später erfuhr er, dass alle Kalligraphen so vorgingen, wenn sie den Fehler oder die Ungenauigkeit früh genug erkannten, und man sprach belustigt darüber, dass ein Meister erst als erfahren galt, wenn er mit den Jahren eine ganze Flasche Tinte geleckt hatte.
Wer aber viel kratzte, galt als unsicher. Und sein Vater kratzte bei jeder Kalligraphie.
Meister Serani rechnete nie die Zeit, die er oder einer seiner Mitarbeiter für eine Kalligraphie benötigten, sondern wiederholte unermüdlich: »Lasst die Zeit in euer Werk einziehen.« Mit dieser Einstellung wurde er nie reich durch seine Arbeit. Dafür schmückten seine Kalligraphien die wichtigsten Moscheen, Ministerien und Paläste der Stadt.
Hamid besuchte den Meister nie zu Hause und wusste auch nach Jahren nicht, wo er wohnte, obwohl Serani ihn von Anfang an wie seinenpersönlichen Schüler behandelte. Er sei sein Meisterschüler und viel zu schade für Dienstbotenarbeit, die solle der Laufbursche Ismail erledigen.
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