Das Geheimnis Des Kalligraphen
besagten, dass Hamid nachweislich monatelang nach Nassri gesucht und bei mehreren Männern und Frauen nach ihm gefragt hatte. Das sei das wichtigste Argument für den Urteilspruch und spreche für vorsätzlichen Mord.
Es half nichts.
Hamid schlug mit der Faust gegen die Wand: »Verfluchte Gerechtigkeit. Auch sie ist eine Hure und wird mit verbundenen Augen an der Nase herumgeführt.«
Er setzte sich auf die Kante seiner Pritsche, bückte sich und zog eine längliche große Holzkiste hervor. Er öffnete sie und nahm das Blatt heraus, das er beim ersten Besuch im Atelier seines Meisters geschrieben hatte.
Was sein Meister dem Vater damals beim Abschied gesagt hatte, klang noch frisch in seinem Ohr. »Ahmad, Gott gibt dem, den er auserwählt, ohne dass wir es verstehen müssen oder können, und diese Gabe ist, das kannst du mir glauben, kein Anlass für Jubel. Sie ist eine lästige Verpflichtung. Es grenzt an Blasphemie, was ich sage, aber ich sage es trotzdem. Die Gabe ist ein Geschenk und eine Strafe zugleich. Geh und freue dich darüber, dass du sie nicht hast, und achte auf den Jungen. Ich will nicht hören, dass du ihn schlecht behandelst. Haben wir uns verstanden?«
Sein Vater nickte wortlos.
Meister Serani wollte nicht, dass jemand anderer die Aufsicht über Hamid übernahm. Er nannte ihn seinen persönlichen Schüler und war sehr zufrieden über seine Fortschritte. Es dauerte etwa fünf Jahre, bis die Damaszener begannen, von dem »Wunderknaben der Kalligraphie«zu sprechen. Hamid fand es übertrieben. Er konnte seinem Meister nicht das Wasser reichen, und doch sprachen die Leute davon, dass man die Kalligraphien des Meisters und seines Schülers nicht mehr unterscheiden könne.
Sein Meister übergab ihm immer größere Aufgaben. Mit sechzehn sollte er bereits das Atelier leiten, während Serani auf Reisen war, und er war die Hälfte der Zeit nicht da. Mancher Geselle war so alt wie Hamids Vater, aber das zählte für Serani nicht. Auch nicht, dass Hamid durch die Bevorzugung unbeliebt wurde. Und zudem ließ Hamids Neigung zur Perfektion ihn auch gnadenlos gegen jede Nachlässigkeit der routinierten Gesellen vorgehen, was ihn auch nicht gerade beliebt machte.
Serani wusste von dem Unmut seiner Mitarbeiter, aber er war wie verzaubert von seinem Schüler: »Hamid ist mein Stellvertreter. Wer seinem Wort nicht folgt, kann gleich gehen«, beschied er sie knapp.
Hamid legte das Blatt mit seiner ersten Kalligraphie in die Holzkiste zurück und wollte sie unter das Bett schieben, als er das dicke Heft mit dem schwarzen Deckblatt sah, in das er seine Gedanken und Geheimnisse eingetragen hatte. Es war Arbeitsjournal und Tagebuch in einem, und auf Anraten seines Meisters hatte er es ohne Titel gelassen, um weniger Neugierige anzuziehen.
Damals hatte ihm Serani das große dicke Heft bei dem bekannten Buchbinder Salim Baklan gekauft, dessen Werkstatt die teuersten Korandrucke mit kunstvollen Einbänden versah. »Was Baklan bindet, ist unverwüstlich«, sagte Serani.
Die Bindung hatte einen einzigen Riss erlitten, als irgendjemand das Buch gewaltsam auseinandergebogen hatte. Samad, sein Mitarbeiter, beschuldigte damals den Laufburschen Salman, der durch die Vermittlung von Karam zu ihm gekommen war.
Hamid schüttelte den Kopf, um die Gedanken an den dubiosen Kaffeehausbesitzer zu verscheuchen, und kehrte zum Heft zurück. Er hatte jeden Abend die Themen seiner Übungen und seine Empfindungen notiert. Später vertraute er seinem Tagebuch seine Gedanken über die Schrift und seine geheimen Pläne an.
Er konnte offen schreiben, weil er im Atelier eine eigene Schublade in einem großen Schrank hatte. Den Schlüssel trug er an einer Kette bei sich. Aber auch wenn er manchmal die Schublade offen ließ, fasste keiner etwas an.
Zu Hause konnte er nichts aufbewahren, denn seiner Schwester Siham entging nichts, und kein Verschluss widerstand ihrer Neugier länger als drei Tage.
Als er selbständig geworden war und sein eigenes Atelier hatte, legte er das Heft in den Schrank hinter seinem Schreibtisch. Es war sein kostbarer Besitz. Es enthielt nicht nur all seine Erfindungen, Gedanken und Pläne für eine Reform der Kalligraphie, sondern auch Ansichten und Namen seiner Freunde im geheimen »Bund der Wissenden«. Es lag unauffällig und sicher unter vielen anderen Heften und Büchern über Ornamentik und Kalligraphie, denn der Schrank wurde immer abgeschlossen, weil darin auch das Blattgold und teure Schreibutensilien
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