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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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aufbewahrt wurden.
    Keiner seiner Mitarbeiter hatte je den Schrank angefasst. Da war er sich sicher. Eine Weile hatte er geheime Markierungen gelegt, die ihm gezeigt hätten, wenn jemand die Schranktür aufgemacht hätte. Aber außer ihm schien sich keiner für den Schrank zu interessieren.
    Nur dieser kleine Salman war auffallend neugierig. Er saugte jede Bemerkung über Kalligraphie auf, notierte vieles eifrig auf Zetteln, war aber ansonsten minderbemittelt. Später, nach der Verdächtigung und Entlassung, soll er sich in einem Restaurant verdingt haben. Wäre er hinter den Geheimnissen der Kalligraphie her gewesen, wäre er nicht Koch in einem Restaurant geworden.
    Die übrigen Mitarbeiter waren brave und drei von ihnen sogar gute Handwerker, aber keiner von ihnen verdiente es, Kalligraph genannt zu werden.
    »Die Feder ist die Zunge der Hand«, las er leise den Spruch, den Meister Serani auf seine Bitte hin auf die erste Seite des Heftes geschrieben hatte.
    Die Kalligraphie, hatte er selbst enthusiastisch notiert, ist die Kunst, mit schwarzer Farbe helle Freude in das verlorene Weiß des Papiers zu bringen. Sie gibt ihm Gestalt und wertet es dadurch auf.
    Er blätterte ein paar Seiten mit technischen Maßangaben für die richtige Proportion der Buchstaben durch, dann stieß er auf eine Episode, die ihn damals beeindruckte. Er hatte sie Wort für Wort festgehalten.
    Meister Serani hatte erzählt: »Der Prophet schätzte die Schrift, und der Koran, das Wort Gottes, ist eine Schrift. Der erste Satz, den der Prophet Muhammad hörte, war:
     
    Lies im Namen deines Herrn, der erschuf,
    Den Menschen erschuf er aus geronnenem Blut,
    Lies, dein Herr ist großherzig,
    Der unterwies mit dem Schreibrohr,
    Den Menschen unterwies er
    In dem, was er nicht weiß zuvor...
     
    Nach der siegreichen Schlacht von Badir hatte der Prophet jedem Gefangenen die Freilassung in Aussicht gestellt, wenn er zehn Muslimen Lesen und Schreiben beibringen konnte.«
    Hamid überblätterte ein paar Seiten über Herstellung und Pflege der Schreibutensilien. Er erinnerte sich genau an diese Zeit. Er war etwa ein Jahr in der Lehre, als er den Meister mit einem Spruch erfreute, den er in der Nacht auf Bestellung eines Kunden geschrieben hatte. Serani lobte seine Arbeit. Ein älterer Kollege war neidisch und giftete den ganzen Vormittag, bis Serani ihn zur Seite nahm und tadelte. Hamid hatte hinter einer spanischen Wand alles mitgehört.
    Auf der Pritsche sitzend und das Heft in den Händen haltend erinnerte er sich so gut an Seranis Worte, als würde er sie gerade sprechen: »Du bist fleißig, aber er ist begnadet. So wie Bienen nicht wissen, wer sie zu dieser perfekten Sechseckform für ihre Waben geleitet hat, weiß Hamid nicht, wer seine Feder diesen unsichtbaren Linien und Formen folgen lässt. Also sei nicht neidisch, denn er kann nicht einmal etwas dafür.«
    Hamid hatte damals einen Einfall. Er lag am frühen Morgen im Bett. Er war wie immer ganz auf sich gestellt, denn sein Vater oder seine Mutter beachteten ihn nicht weiter. Seine Mutter war immerschon bereits in der Morgendämmerung wach, aber sie weckte ihn nicht ein einziges Mal. Sein Vater schnarchte bis zehn Uhr. So lernte er früh aufzustehen und sich frisches warmes Brot von der Bäckerei zu holen, um sich sein Lieblingsbrot mit Thymian und Olivenöl zu bereiten. Den einen Brotfladen aß er in der Küche, den anderen wickelte er als Proviant in eine Tüte. Er wusch sich gründlich und parfümierte sich mit einem Tropfen Zitronenblütenöl und machte sich pfeifend auf den Weg zu seinem Meister. Er freute sich auf die Arbeit, und darauf, dass er bis zum Abend nicht zu Hause sein musste.
    Er vertraute Meister Serani seinen Einfall an, und als dieser bewundernd mit dem Kopf nickte, schrieb Hamid den Satz auf: »Die Buchstaben führen einen Tanz auf, und die Zeile wird so Musik fürs Auge.«
    Meister Serani hatte nur korrigiert: »Nicht fürs Auge, Musik für die Seele«, aber Hamid fand es damals und auch später übertrieben, und hatte es deshalb nicht in sein Heft übernommen.
    Er lächelte.
    Drei Seiten lang behandelte er den Schwierigkeitsgrad der einzelnen Buchstaben. Für ihn war der Buchstabe H sehr schwer zu beherrschen. Meister Serani sagte aber, wer ein elegantes U schreiben könne, brauche sich vor keinem anderen Buchstaben zu fürchten. Geselle Hassan, stand im Heft, meinte, das R mache ihm die größte Mühe, weil der Buchstabe nur scheinbar leicht sei, und dabei bestimme er

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