Das Geheimnis Des Kalligraphen
gelesen, alle Laute und Wörter beschrieben und aufgelistet, die mit der arabischen Schrift nur schlecht ausgedrückt werden konnten, und Schwächen der Schrift, Fehler der Sprache und Vorschläge der Reformer aus vielen Jahrhunderten gesammelt.
Er betrachtete einen Titel, den er sorgfältig im Nas-chi-Stil geschrieben hatte: »Reform der arabischen Schrift. Eine Abhandlung desSklaven Gottes Hamid Farsi.« Die Bezeichnung »Sklave Gottes« hatte er damals mit sechzehn von seinem Meister gelernt und gebrauchte sie, bis er sich selbständig machte und sie als geheuchelte Bescheidenheit empfand.
Seine Pläne, die er in zwei Jahren mehrmals formuliert und auf lose Blätter geschrieben hatte, bevor er sie ins Heft übertrug, las er nun wieder und war stolz auf ihre Frische und Genauigkeit. Auf fünfzig Seiten hatte er in winziger, aber leserlicher Schrift seine Reformvorschläge und die Grundlagen für drei neue Stile niedergeschrieben.
Die arabische Schrift hatte seit mehr als tausend und die Kalligraphie seit hundertfünfzig Jahren keine Entwicklung mehr durchlaufen. Einzig ein paar Verbesserungen seines Meisters wurden anerkannt und eine scheußliche ägyptische Schrift, deren Erfinder, Muhammad Mahfuz, sie aus purem Opportunismus für König Fouad I. entworfen hatte. Er schlug – den Europäern nacheifernd – vor, Großbuchstaben einzuführen, dazu sollte jeder Buchstabe so umgeformt werden, dass er eine Krone darstellte, weshalb er seine langweilige Erfindung auch Kronenstil nannte. Ein Rückschritt, wie er fand, der auch kaum von jemandem beachtet wurde.
Zwei große Schwächen der arabischen Schrift, die nur ein Kalligraph lösen konnte, hatte Hamid in seinem Heft ausgeführt: »Die arabischen Buchstaben werden auf vier verschiedene Weisen geschrieben, abhängig davon, ob sie am Anfang eines Wortes, in der Mitte, am Ende oder frei stehen.« Das heißt, ein Schüler muss hundert verschiedene Formen von Buchstaben lernen. Und weiter: »Viele arabische Buchstaben sehen einander ähnlich und unterscheiden sich nur durch einen, zwei oder drei Punkte. Man müsste eine neue Schrift erfinden, in der jeder Buchstabe nur einmal geschrieben wird und mit keinem anderen verwechselbar ist«, notierte er hochmütig und radikal wie jeder Revolutionär.
Über der Arbeit daran erkannte er eine dritte Schwäche der arabischen Schrift: »Einige Buchstaben sind überflüssig, andere fehlen.« Seinen Vorschlag nannte er: »Das effektive Alphabet«.
Er experimentierte unzählige Nächte und Tage lang und lernte viele Alphabete. Er war inzwischen neunzehn und wartete auf eine Gelegenheit,um seinem Meister seine Reformvorschläge zu unterbreiten. Er fühlte sich sicher, doch sah er bereits das skeptische Gesicht Seranis vor sich, der sehr konservativ und schwer für Erneuerungen zu gewinnen war. Er lehnte entschieden die Kunst der getrennten Buchstaben ab, die damals in Mode kam. Das sei nur eine billige Anbiederung an die Europäer, Kalligraphie für Touristen, die nicht lesen können und müssen, also Kalligraphie für Analphabeten.
»Nein, die arabische Kunst besteht in der Gestaltung ganzer Wörter und nicht losgelöster Buchstaben. Und wenn ein Franzose ein chinesisches Wort in sein surrealistisches Bild einbaut, nennt man das dann chinesische Kalligraphie?«, fragte er und lächelte spöttisch.
Manche Kalligraphen, die auch Hamid verachtete, fertigten gerade diese Art von Bildern für die Ölscheichs an, die zum größten Teil Analphabeten waren. Riesige Ölgemälde mit einem Buchstabensalat in Form von Wüsten und Oasen oder Kamelen und Karawanen, Kompositionen, die den Scheichs jeden Vorwurf ersparten, sie würden in ihren Räumen Gemälde aufhängen, was der Islam verbot.
Genauso wie diese Unsitte lehnte Meister Serani die Nachahmung der Japaner und die grobe Kalligraphie mit Pinseln ab, die damals ebenfalls in Mode kam.
»Da hat ein Esel seinen Schwanz in Tinte eingetunkt und über das Blatt gewedelt«, sagte er abfällig, als sein Geselle Hassan die Arbeit eines Kollegen zeigte, die in dieser Weise ausgeführt war.
Also hatte sich Hamid auf eine harte Auseinandersetzung mit seinem Meister vorbereitet. Er wollte ihm, den er wie einen immer erträumten Vater liebte, nicht länger verheimlichen, was sein Herz und seinen Geist vollkommen besetzt hatte. Und er nahm einen Streit, ja sogar eine Entlassung in Kauf.
Doch es kam anders.
In jener Phase fühlte Hamid sich wie ein Zelt im Sturm. Er reagierte gereizt und
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