Das Geheimnis Des Kalligraphen
Buchstaben entfernen zu wollen, war auch eine meiner Jugendsünden ... «
Serani lächelte verlegen und wedelte mit der Hand, als wollte er seine Fehler wie lästige Fliegen aus dem Gedächtnis vertreiben. Er schenkte Tee nach.
»Im Französischen tarnen sich die drei Buchstaben A, U und X, wenn sie zusammenkommen, als wären sie der Buchstabe O«, bemühte sich Hamid mit seinen dürftigen Kenntnissen, Schritt zu halten.
Serani blätterte lange in Hamids Heft und trank seinen Tee und blieb stumm, als hätte er ihn nicht gehört.
»Genau. Man nimmt keinen Buchstaben weg«, sagte er schließlich, als hätte er die ganze Zeit nach einem Argument gesucht, »den die Jahrtausende geformt haben, aber Franzosen und Engländer haben ja nicht einmal einen Koran, und der ist, solange du dich Muslim nennst, das Wort Gottes. Nimm dich also in Acht, Junge, bei diesem Punkt wird es gefährlich. Damals wie heute. Man muss auf der Hut sein vor Fanatikern. Ein Kollege zahlte mit dem Leben, weil er die Türken nachahmen wollte und die Abschaffung der arabischen und die Einführung der lateinischen Buchstaben vorschlug. Er wollte nicht auf mich hören.«
Trauer überzog Seranis Gesicht.
»Nein«, sagte er leise, »so etwas müsste man lange im Untergrund vorbereiten, man müsste nach und nach Gelehrte gewinnen, die später eine vorsichtige Reform mit all ihrer Autorität in der Öffentlichkeit verteidigen können. Ohne sie ist nichts zu machen.«
»Aber sie werden einer Umwälzung nie zustimmen«, erwiderte Hamid.
»Wer spricht hier von Umwälzung. Nichts wird umgewälzt. Das Alphabet soll lediglich erweitert werden, damit Arabisch die eleganteste und fähigste Sprache der Erde wird. An ihrem Stolz kannst du die Leute packen. Deshalb finde ich deinen zweiten Vorschlag klug: Du schreibst, unser Alphabet braucht vier – meiner Meinung nach sechs – zusätzliche Buchstaben, um Türkisch, Persisch, Japanisch, Chinesisch und alle lateinischen Sprachen perfekt ausdrücken zu können. Der Koran und seine Buchstaben werden nicht angerührt, aber für unsermodernes Leben wird eine moderne Schrift immer wichtiger. Da bist du auf dem richtigen Weg. Auch neue Formen für Buchstaben zu erfinden, die keine Verwechslung mehr verursachen, ist in Ordnung, aber das kann nicht an einem Tag geschehen, sondern braucht ein Jahrhundert, bis man behutsam die besten Buchstaben herauskristallisieren kann.«
»Und was ist, wenn Gelehrte sagen, das sei gegen den Islam, weil die arabische Sprache heilig sei und keinen Buchstaben mehr haben dürfe als der Koran?«
»Das werden sie auf jeden Fall sagen, aber du kannst sie mundtot machen, wenn du sie daran erinnerst, dass Arabisch bereits zwei-, dreimal reformiert wurde. Die Buchstaben, mit denen die ersten Exemplare des Korans geschrieben wurden, sahen anders aus, hatten keine Punkte und wurden mehrmals reformiert, bis sie vor über tausend Jahren die heutige Form annahmen. Du kannst auch sagen, Persisch wird auch mit einem erweiterten arabischen Alphabet mit zweiunddreißig Buchstaben geschrieben. Ob die Perser dadurch weniger gläubig oder schlechtere Muslime geworden sind?«
Serani stand auf und ging zum Fenster. Er beobachtete eine Weile aufmerksam die Straßenkehrer, die zu dieser frühen Stunde ihre Arbeit verrichteten. »Vielleicht kränkt dich, was ich dir jetzt sage, deshalb versprich mir, dass du erst einen Tag schweigst, bevor du mir eine Antwort gibst. Ich weiß, wie viel Mühe du dir gibst, und du bist mir näher als mein einziger Sohn, der von Kalligraphie nichts wissen will. Aber du hast etwas, was ich nie gehabt habe. Deine göttliche Begabung hat dich stolz werden lassen und Stolz führt zu Hochmut. Kalligraphie ist aber eine Kunst der Bescheidenheit. Nur wer Demut im Herzen hat, kann die letzten Tore ihrer Geheimnisse aufstoßen. Hochmut ist hinterhältig, du merkst seine böse Hand nicht, aber er verwandelt deine Wege in Sackgassen.«
Hamid stockte der Atem. Er war den Tränen nahe. Plötzlich fühlte er Seranis kleine Hand auf seiner rechten Schulter. Er erschrak, weil er die Schritte seines Meisters nicht gehört hatte.
»Nimm dir heute mein Heft vor und lies es durch. Du bist solange von jeder Arbeit befreit. Lies das. Du wirst sehen, dass ich seit überzwanzig Jahren versucht habe, nur einen einzigen Stil neu zu erfinden. Mir ist es nicht gelungen, nicht weil ich keine Vorstellungsgabe habe, sondern weil die alten Osmanen kaum etwas übrig gelassen haben. Und was machst du? Du
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