Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
Vom Netzwerk:
schreibst, du hättest sieben neue Stile erfunden und drei davon seien reif. Aber schauen wir sie uns einmal genau an. Der Stil, den du ›Morgana‹ nennst, sieht aus wie ein betrunkener Tulutstil. ›Pyramide‹ nennst du diese zwanghaft auf ein Dreieck reduzierte Gestaltung aller Buchstaben. ›Fantasia‹ hat keine Struktur, und was du ›Modern I‹ nennst, kann man auch mit einem Seil vergleichen, das in Stücke zerrissen wurde. Die Buchstaben besitzen keine innere Musik. ›Salimstil‹ besitzt keine Eleganz. Und schließlich noch der Stil, dem du – mir zuliebe – meinen Namen gegeben hast. Er ist mir fremd. Nein, so viel braucht ein Kalligraph nicht zu erfinden. Wenn du dich auf eine einzige Erneuerung, einen einzigen Stil konzentrierst, wirst du erkennen, wie schwierig eine wahre Erfindung ist. Und gelingt sie dir, so wirst du verewigt.«
    Hamid hatte leise zu weinen begonnen. Er weinte vor Wut auf sich selbst und aus Enttäuschung über seinen Meister. Er wollte vieles sagen, aber er schwieg einen Tag lang. Danach musste er seinem Meister recht geben und war dankbar für den Rat, einen Tag lang zu warten, denn er hätte seinen Förderer Serani für immer verloren, wenn er ihm sofort seine Meinung gesagt hätte.
     
    Einen Monat später hielt ihn Serani, als Hamid gerade gehen wollte, zurück. Er schloss das Atelier, kochte Tee und setzte sich an seinen Platz.
    Lange schwieg er.
    »Vom ersten Augenblick an – ich habe es dir schon einmal gesagt – warst du mir wie der Sohn, den ich mir gewünscht habe. Vor neun Jahren kamst du zu mir, heute bist du der Leiter der Werkstatt und meine rechte Hand, und du bist noch mehr. Die anderen Gesellen sind brave und fleißige Mitarbeiter, aber das Feuer hat ihr Herz nicht erfasst. Ich möchte dir heute den Titel eines Meisters geben. Es ist Sitte, dass der dafür Auserkorene, sozusagen als Abschlussarbeit, sein Zertifikat selbst anfertigt. Vorgeschrieben ist nur dieser offizielle Text, der etwa in derMitte stehen soll. Ansonsten steht dir alles frei, Gestaltung und Auswahl der Sprüche. Du kannst die unseres Propheten oder welche aus dem Koran aussuchen oder auch Weisheiten, die dir wichtig sind, und sie in dieses große Zertifikat einarbeiten. Schau dir die Sammlung der Zertifikate in diesem Band an, bevor du deines gestaltest.«
    Serani gab ihm einen kleinen Zettel, auf dem stand, dass Meister Serani ihm, Hamid Farsi, dieses Zertifikat aushändige, weil er alle Voraussetzungen für einen Meister der Kalligraphie erfüllt habe. »Dieses Zertifikat fertigst du in aller Ruhe an und bringst es mir Anfang des nächsten Monats zum Unterschreiben. Und sobald ich es unterschrieben habe, nimmst du es mit dir nach Hause. Du bist noch viel zu jung, und der Neid der anderen könnte dir schaden. Lass es unser Geheimnis sein.«
    Hamid, in jenem Augenblick der glücklichste Mensch auf Erden, nahm die Hand des Meisters und küsste sie.
    »Um Gottes willen«, sagte dieser halb im Spaß, aber doch auch etwas erschrocken. »Was ist in dich gefahren? Du hast nicht einmal als kleiner Junge meine Hand geküsst.«
    »Weil ich noch zu dumm war, um zu begreifen, wer du bist«, sagte Hamid und weinte unversehens vor Glück.
    Als er das Zertifikat nach einem Monat vollendet hatte, brachte er es in einen großen Schal gewickelt mit ins Atelier und versteckte es in seiner Schublade, bis alle Mitarbeiter nach Hause gegangen waren.
    Serani rief: »Heute machst du den Tee«, und arbeitete so lange weiter, bis Hamid mit dem duftenden Ceylontee kam.
    Serani betrachtete das Zertifikat mit sichtlichem Genuss. »Meine Güte, kannst du auch eines für mich anfertigen?«, scherzte er.
    »Deines ist himmlisch. Das hier ist nur Staub«, erwiderte Hamid.
    »Ich war schon immer ein Bodentier, deshalb liebe ich den Staub. Du hast merkwürdigerweise nur Sprüche gewählt, die mit Veränderung zu tun haben. Ich habe damals, wie du auf meinem Zertifikat lesen kannst, nur Dank und noch einmal Dank geschrieben. Ich war damals ziemlich naiv und mir fiel nur meine Dankbarkeit ein.«
    Serani unterschrieb das Zertifikat mit den Worten: »Den Meistertitel verleiht und bestätigt der arme Sklave Gottes Salem Serani.«
    »Nun setz dich heute zum ersten Mal als Meister zu mir. Es gibt etwas sehr Wichtiges, was ich dir aufbürden muss.«
    Und der Meister begann ihm vom »Geheimbund der Wissenden« zu erzählen. Vom Himmel der Unwissenden, dem Fegefeuer der Halbwissenden und der Hölle der Wissenden.
    Eine Woche später

Weitere Kostenlose Bücher