Das Geheimnis Des Kalligraphen
unauffällig mit sieben anderen Kalligraphien aus seinem Atelier ins Gefängnis bringen lassen. Niemand wusste, dass dieses kleine Bild ein Geheimnis barg: das Dokument seiner Zugehörigkeit zum geheimen »Bund der Wissenden«, deren Großmeister er zwei Jahre nach seinem Eintritt geworden war. Das Dokument übergab ihm sein Meister in einer geheimen Feier des Bundes. Serani hatte seinerseits das Dokument von seinem Meister al Scharif und jener wiederum von seinem Meister Siba’i bekommen. Die Liste aller Besitzer war im Futteral des Bildes versteckt, sie reichte bis zum Jahr 1267 zurück und dokumentierte die geheime Verbindung bis zum Großmeister Yakut al Musta’simi. Er war der Gründer des Geheimbundes der Kalligraphen. Er bezeichnete sich selbst im Dokument als bescheidener Schüler des Meisters aller Meister Ibn Muqla.
Der Geheimbund strebte auch im zwanzigsten Jahrhundert noch treu die Ziele seines Gründers an. Damals hatte er zwölf seiner Meisterschüler und treuen Anhänger in zwölf Regionen des seinerzeit großen arabischen Reiches geschickt, das sich von China bis Spanien ausdehnte. Der Hauptsitz für den Meister aller Meister war zunächst Bagdad, später verlagerte er sich nach Istanbul und blieb dort vierhundertJahre lang. Nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reichs und der Entscheidung des Gründers der modernen türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, ab 1928 Türkisch mit lateinischen Buchstaben zu schreiben, entflammte ein erbitterter Kampf zwischen den Meistern in Damaskus, Bagdad und Kairo um den Hauptsitz. Dieser Kampf sollte noch ein halbes Jahrhundert später unentschieden bleiben. Aber die Prinzipien der Organisation blieben die gleichen. In jedem Land stand je nach Größe ein Großmeister im »Rat der Weisen« drei, sechs oder zwölf anderen Meistern vor, und diese leiteten kleine Kreise von Kalligraphen, die die »Eingeweihten« genannt wurden. Jeder der Eingeweihten musste einen Kreis von Persönlichkeiten beeinflussen, die man im Bund »Halbwissende« nannte.
Die Aufgabe des Bundes war es, nicht öffentlich, sondern im Geheimen über den Kreis der Eingeweihten und der Halbwissenden die Schwächen der Sprache und Schrift auszutilgen, damit sie eines Tages das Prädikat göttlich verdienen würde. Viele der Meister verloren ihr Leben durch Verrat. Neben ihren Namen stand der Vermerk: Märtyrer.
Hamid erinnerte sich an jenen Augenblick, als er vor seinem Meister kniete. Serani stand vor ihm, legte ihm seine linke Hand auf den Kopf. Den Zeigefinger der rechten Hand legte er senkrecht auf Hamids Lippen: »Ich bin dein Meister und Beschützer und befehle dir, den Spruch im Herzen zu wiederholen, dass du dein Leben im Dienste der Schrift verbringst und nie das Geheimnis verrätst.«
Hamid hatte benommen genickt.
Er musste gemeinsam mit dem Meister ein Dankgebet verrichten, anschließend führte ihn Meister Serani zu einem Tisch, auf dem ein kleines Brot und ein Teller mit Salz standen. Der Großmeister teilte Brot und Salz mit ihm. Erst jetzt zog er den kleinen goldenen Ring hervor und schob ihn an Hamids linken Ringfinger und sprach leise zu ihm: »Mit diesem Ring binde ich dein Herz an unser Ziel, das uns der große Meister Ibn Muqla nannte.« Serani wandte sich danach dem »Rat der Weisen« zu und verabschiedete sich mit dem Versprechen, dem Bund immer verpflichtet zu bleiben und den neuen Großmeister zu begleiten.
Die zwölf Meister kamen auf Hamid zu, küssten den Ring, umarmten ihn und jeder flüsterte dabei: »Mein Großmeister.«
Einige Tage später sagte ihm Serani, als alle Mitarbeiter das Atelier verlassen hatten: »Ich bin alt und müde und freue mich, dass ich dich für den Bund gefunden habe. Das ist meine größte Leistung. Dein Feuer im Herzen hatte ich, als ich noch jung war, aber ich spüre, wie die Asche der Jahre immer mehr die Glut erstickt. Ich habe nicht viel erreicht, das Wichtigste waren vielleicht ein paar unbedeutende Verbesserungen am Taalik-Stil, aber ich habe in dreißig Jahren den Kreis der Eingeweihten im Land verdoppelt und den Kreis der Halbwissenden verdreifacht.
Diese beiden Kreise, die zwischen den Meistern und der Masse der Unwissenden stehen, musst du erziehen, ermuntern und unterweisen, und immer wieder Eingeweihte hinausschicken, damit sie die Menschen aufklären und mit ihnen die Sache der Schrift gegen die Söhne der Dunkelheit, die sich die ›Reinen‹ nennen, verteidigen.
Du bist jetzt der Großmeister. Dafür hat dich Gott
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