Das Geheimnis Des Kalligraphen
war er feierlich in den Bund aufgenommen worden.
Er blätterte in seinem Heft und fand die Seiten, die er wie alle Mitglieder des Geheimbundes in der geheimen Siyakat-Schrift geschrieben hatte.
Hamid erinnerte sich an die ersten Sitzungen des Bundes. Ihn faszinierte das enzyklopädische Wissen der Herren, aber sie kamen ihm ziemlich träge und überaltert vor. Und dann dieses Pathos: »Die Erde ist eine Hölle für Wissende, das Fegefeuer für Halbwissende und das Paradies nur für die Unwissenden.« Den Spruch soll Ibn Muqla gesagt haben. Hier im »Rat der Weisen«, dem Vorstand des Bundes, merkte er nichts von einer Hölle. Alle Meister waren wohlhabend, mehrfach mit jüngeren Frauen verheiratet und warfen einen runden anständigen Schatten ihres wohlgenährten Daseins.
Das Schweigegelübde hatte er verstanden, weil seit der Gründung des Bundes tödliche Gefahr auf allen seinen Mitgliedern lauerte und man sich vor Verrätern nicht genug schützen konnte.
Ihr Gruß bestand in einem Code, um fremde Kalligraphen zu erkennen. Das war ein Ritual aus vergangenen Zeiten und hatte in der modernen Zeit keine Bedeutung mehr, weil der Bund sich jeweils auf ein Land beschränkte und die Zahl der Mitglieder begrenzt war. Man kannte sich, hatte Kontakt zu den Mitgliedern in den anderen Städten und versah fremde Kalligraphen immer mit empfehlenden Begleitbriefen.
Als Hamid die von Kalligraphen des osmanischen Sultans entwickelte Geheimschrift Siyakat lernte, war er so fasziniert, dass er sie seitenweise in seinem Tagebuch gebrauchte. Unter den Sultanen erschien Siyakat wie eine Reihe von stenographierten arabischen Buchstaben und war für die damalige Welt sehr kompliziert. Alle Berichtedes Sultans wurden in dieser Schrift festgehalten, um sie vor den Augen der Neugierigen zu schützen, aber jeder begabte Kalligraph konnte den Schleier dieser Geheimschrift lüften.
Der »Rat der Weisen« stimmte später Hamids Vorschlag zu, Siyakat abzuschaffen, weil die Geheimschrift die Verständigung unter Freunden erschwerte, nicht aber das Entschlüsseln durch erfahrene Feinde verhinderte.
Er fühlte sich damals von einer Woge der Begeisterung getragen und merkte, dass er imstande war, vieles zu verändern. Doch bald schon wehte ihm ein kalter Wind ins Gesicht. Seine Vorschläge, die Aufbruchstimmung im Land auszunutzen und die radikale Reform der Schrift zu einer öffentlichen Sache zu machen, wurden schroff abgelehnt. Das sei verfrüht und gefährde den Bund.
Später, als der Kultusminister einige radikale Reformen durchsetzte, jubelten die Mitglieder des Geheimbundes, aber niemand wollte sich erinnern, dass er, Hamid Farsi, diese Vorschläge lange vor dem Minister gemacht hatte. Keiner fand auch nur ein Wort der Entschuldigung.
Er las nun den Satz, den er damals wütend geschrieben hatte: »Die arabische Sippe erlaubt kein Eingeständnis von Fehlern, und Zivilisation ist nichts anderes als die Summe aller Fehlerkorrekturen.«
Er schüttelte den Kopf: »Das war kein Rat der Weisen, sondern eine Schafherde«, flüsterte er. Und sie widersetzten sich den nächsten Schritten, so dass – abgesehen von der Gründung der Schule für Kalligraphie – in zehn Jahren kein einziger Beschluss zu Gunsten einer seiner Ideen gefasst wurde.
»Neidhammel«, sagte er und klappte das dicke Heft zu.
Auch seine zwei Kalligraphiestile, die er im Laufe der Jahre entwickelt hatte, wurden im Bund nur belächelt. Hamid verteidigte seine Erneuerung, schrieb einen Rundbrief an alle Mitglieder und stellte seine zwei neuen Stile vor. Die Damaszener Schrift voller Eleganz war offen, hatte aber sehr viel mit der Geometrie des Kreises zu tun. Die junge Schrift war sehr schmal, glatt, frei von jedem Schnörkel. Sie hatte Tempo, war spitz und voller Energie. Sie bevorzugte schräge statt dersenkrechten Linien. Er bat um Kritik und hoffte auf ermutigendes Lob, doch erhielt er keine Antwort.
Damals hatte seine Einsamkeit begonnen bitter zu schmecken.
9.
H amid schloss das Heft, legte es in die Kiste zurück und schob diese wieder unter die Pritsche. Er stand auf, ging zur Wand gegenüber und ließ seinen Blick aufmerksam über die dort hängende Kalligraphie wandern: Der Spruch »Gott ist schön und liebt die Schönheit« war in Tulut-Schrift aus dem Jahr 1267 mit Goldblatt auf dunkelblauen Hintergrund geprägt. Das Bild war nicht größer als seine Handfläche, doch es war ein unbezahlbares Unikat. Er hatte sich dieses Juwel der Kalligraphie
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