Das Geheimnis Des Kalligraphen
ungeduldig auf Späße und Fehler der Lehrlinge. Eines Nachts konnte er nicht schlafen, seine Unruhe trieb ihn aus dem Bett und er beschloss, ins Atelier zu gehen. Er besaß als einziger neben Meister Serani einen Schlüssel.
Zu dieser Stunde dämmerte der Morgen schon schüchtern durchdie dunklen Gassen. Als er aus der Ferne Licht im Atelier sah, wunderte er sich und hatte Sorge, dass irgendein Geselle die ganze Nacht das Licht hatte brennen lassen.
Seine Überraschung war groß, als er Meister Serani an seinem Schreibtisch sitzen und in seinem, Hamids Heft, lesen sah.
»Du hast viel gewagt und keine schlechte Ernte eingefahren. Ich habe deine Korrekturvorschläge zweimal gelesen. Das Heft lag auf meinem Tisch. So etwas würde ich nicht überall herumliegen lassen. Es enthält Juwelen für Kenner, und sie sind ein Messer in der Hand von Ignoranten«, sagte er.
Hamid war auf einmal kalt. Er goss sich heißen Tee ein, den der Meister gerade zubereitet hatte, und setzte sich auf einen kleinen Stuhl ihm gegenüber.
»Wie wenn eine Engelshand dich zu mir geführt hätte«, sagte Serani und sah Hamid nachdenklich an. »Es ist doch unglaublich, ich wache nach zwei Stunden Schlaf auf und fühle, dass ich hierher kommen muss. Manchmal ist so ein Gefühl auch die Vorahnung einer Katastrophe. Ich komme und sehe dein Heft auf meinem Tisch liegen. Ich schlage es auf, und was lese ich? Das, was ich selbst vor zwanzig Jahren heimlich geschrieben habe. Ich habe die fünfzig Seiten zweimal gelesen und verglichen. Hier, das ist mein Heft, du kannst es ruhig lesen, denn du bist nicht mehr mein Schüler, sondern mein junger Kollege«, sagte er und zog aus seiner Schublade ein etwas dünneres, großformatiges Heft hervor. Jede Seite war handliniert und sorgfältig beschrieben. Hamid blätterte herum, konnte aber vor Aufregung kaum etwas lesen.
»Die Hefte sind identisch im Guten wie im Schlechten. Genau die gleichen Fehler, die ich damals begangen habe, finden sich auch bei dir.«
»Was für Fehler?«, fragte Hamid mit trockener Kehle.
»Das Alphabet reduzieren zu wollen, was du ›effektives Alphabet‹ nennst, habe ich ›reines Alphabet‹ genannt. Du willst zwölf Buchstaben abschaffen, ich vierzehn. Mittlerweile denke ich – und vielleicht spricht da mein Alter –, das wäre jedoch keine Verbesserung, sondern eine Zerstörung.«
»Zerstörung?« Hamid war hellwach. »Und was ist mit all den Doppelungen einiger Buchstaben und dem überflüssigen LA , dem aus zwei einzelnen Buchstaben, die bereits im Alphabet vorkommen, zusammengeklebten Zeichen?«
»Ich will dich nicht entmutigen. Diesen Buchstaben LA hat der Prophet dem Alphabet hinzugefügt, und er bleibt, bis die Erde untergeht. Wenn du auf mich hören willst, streiche keinen einzigen Buchstaben, weil sonst die ganze islamische Welt gegen dich sein wird, denn diese Buchstaben kommen im Koran vor.
Die arabische Sprache hat nur neunundzwanzig Buchstaben, und je mehr du davon zerstörst, umso unsicherer und ungenauer wird die Sprache.
Aber du musst dich nicht schämen. Das ist in meinem Heft Vorschlag Numero drei. Damals war ich noch radikaler als du. Ich habe gewettet, dass ich die arabische Sprache mit nur fünfzehn Buchstaben perfekt wiedergeben kann. Heute kann ich darüber nur lachen. Kannst du Englisch?«
Hamid schüttelte den Kopf. Er hatte in der Schule nur etwas Französisch gelernt.
»Im Englischen gibt es viele Buchstaben, die in einem geschriebenen Wort auftauchen, aber nicht ausgesprochen werden, andere wiederum verschwinden aus dem Mund, sobald sie zu zweit im Wort erscheinen, wie gh in ›light‹ und ›night‹. Es ist doch schön, oder? Zwei Buchstaben sitzen still beieinander und beobachten die anderen. Andere wiederum tragen manchmal allein oder zu zweit die Maske eines anderen Buchstaben. Besonders das O tarnt sich oft und gerne als U. Übrigens, ein Freund von mir zählte über siebzig verschiedene Schreibweisen für Buchstaben, die im Englischen ein U ergeben. Auch das Iist gar nicht schlecht in seinen Erscheinungsformen. Auch gibt es Buchstaben wie das C und das H, die, sobald sie nebeneinanderstehen, ineinander verschmelzen und einen neuen Buchstaben ergeben, den das englische Alphabet nicht beinhaltet. Das ist Reichtum. Die schlauen Engländer schmeißen keinen Buchstaben weg, sondern kombinieren manchmal mehrere Buchstaben zu einem neuen Buchstaben. Sie bewahren alles auf, um Vergangenes oder Zukünftiges lesen zu können.
Der Wunsch,
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