Das Geheimnis Des Kalligraphen
Jahrhundert, der das Bild im Schrankboden entdecken würde, die Geschichte hinter dem Bild erahnen könnte. Sie schüttelte den Kopf und lächelte.
Dalia war eine wahre Meisterin. Sie hasste das Ungefähre und glaubte ihr Leben lang, dass sich alles Halbe rächen würde. Sie selbst hatte Geduld, aber oft das Pech, dass ihre Mitarbeiterinnen nicht das nötige Feuer mitbrachten. Viele hielten sich schon für Schneiderinnen, weil sie zu Hause einmal eine Schürze oder einen Topflappen genäht hatten. »Mädchen, Mädchen, du bist nicht bei der Sache«, war Dalias häufigster Satz, weil die meisten Gehilfinnen nur ein bisschen nähen lernen wollten, um dann als gute Partie für einen Mann zu gelten. Nach Kochen war Nähen die Fähigkeit, auf die ein Mann in Damaskus bei seiner zukünftigen Frau Wert legte.
»Schere und Nadel, Faden und Nähmaschine sind nur Hilfsmittel«, erklärte sie Nura gleich in der ersten Woche. »Schneidern nach Regeln kann man nach spätestens zwei Jahren, aber erst wenn du beim Anblickeines Stoffes weißt, welches Kleid daraus am besten geschneidert werden kann, bist du eine Schneiderin. Und das steht in keinem Buch. Das musst du im Gefühl haben, um aus dem Brei der Möglichkeiten die Rosine herauszupicken.«
Nura beobachtete genau, wie Dalia den Stoff, den Kundinnen brachten, ausrollte, anfasste, an die Wange legte, nachdachte, ihn wieder in die Hand nahm und gegen das Licht hielt, wie dann ein schüchternes Lächeln über ihren Mund huschte als sicheres Zeichen, dass ihre Chefin jetzt eine Idee hatte. Sie nahm einen Bogen Papier, fertigte in Eile daraus einen Schnitt und hielt diesen prüfend gegen den Stoff. Wenn Dalia zufrieden war, merkte Nura, wie die Idee vom Kopf in das Handgelenk überging, um über ihre Finger in den Stoff zu wandern. Von da an gab es kein Zögern mehr, bis das Kleid mit Nadeln und Heftstichen zusammengehalten war.
Außer der bereits erfahrenen Fatima durfte keine Mitarbeiterin Stoffe zuschneiden. Dalia ermunterte ihre Mitarbeiterinnen aber, mit den Resten zu üben: »Erst mit der gnädigen Baumwolle und dann hinauf bis zu den Majestäten Samt und Seide.«
Nura staunte in ihrem ersten Lehrjahr oft über die langen Debatten, die Dalia mit den Kundinnen führte. Diese kamen in der Regel mit genauen Vorstellungen, was für ein Kleid sie haben wollten. Dalia fand aber häufig, dass genau so ein Kleid nicht zu der Kundin passte.
»Nein, Madame, Orange und Rot passen nicht zu Ihren Augen, nicht zu Ihrer Haarfarbe und vor allem nicht zu Ihrer gesegneten Fülle«, sagte sie.
»Aber mein Mann liebt Rot«, jammerte die Frau des Bankdirektors al Salem. »Dann soll er Rot tragen oder Sie nehmen zehn bis fünfzehn Kilo ab«, sagte Dalia und zeigte ihr, wie gut Blau zu ihr passte und sie dazu schlank erscheinen ließ.
»Wie kannst du das alles sehen?«, fragte Nura eines Tages, als die Frau eines berühmten Chirurgen sich vor Freude und Dankbarkeit über ihr neues Kleid gar nicht mehr einkriegen wollte.
»Ich lernte sehen, bevor ich den ersten Zuschnitt gemacht habe. Versuch einmal die Falten der Wellen, das zauberhafte Grün der Orangenblätter,das Weiß der Jasminblüte, die Schlankheit der Palme zu verstehen. Du wirst sehen, sie sind Meister der Eleganz.«
Dalia war nie zufrieden. Und sie war nicht selten ungerecht. Auch Fatima wurde nicht verschont: »Schau dir Fatima an«, sagte sie oft mit gespielter Verzweiflung und blickte auf ihre älteste und beste Mitarbeiterin, »sie ist seit zehn Jahren bei mir und kann bis heute kein anständiges Knopfloch nähen.«
Fatima hasste Knopflöcher, aber ansonsten war sie eine exzellente Schneiderin. Sie war die einzige treue Mitarbeiterin, die schon vor Nura in der Werkstatt gearbeitet hatte und nach Nuras Weggang noch blieb. Sie arbeitete nicht nur für drei, sie war auch die Seele der Werkstatt. Sie tröstete, kam den jungen Frauen zu Hilfe und widersprach auch laut, wenn ihre Chefin einmal übertrieb.
Die anderen Mitarbeiterinnen wechselten schnell. Sie liebten die Arbeit nicht. Sie kamen mit der Vorstellung, nach einem Jahr bereits Meisterin zu sein, und erfuhren, wie kompliziert das Handwerk war.
Manchmal gingen die Mädchen von selbst, manchmal schickte Dalia sie auch weg: »Das reicht vollkommen, um die Unterhose für deinen Ehemann zu nähen«, sagte sie.
Sie zahlte einen minimalen Lohn, der gerade die monatliche Straßenbahn- oder Busfahrkarte deckte. Aber jede Mitarbeiterin bekam eine warme Mahlzeit am Tag und
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