Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
Vom Netzwerk:
unbegrenzt Kaffee. Alkohol durfte niemand außer der Chefin trinken.
    Nura empfand im Nachhinein das erste Jahr als das schwierigste, vom zweiten Jahr an war sie Feuer und Flamme und konnte bald ganze Kleider allein nähen.
    Als sie begann, von der Arbeit zu träumen, lachte Dalia und klopfte ihr auf die Schulter: »Du machst Fortschritte, sogar im Schlaf«, sagte sie. Dabei war der Traum alles andere als lustig. Nura träumte von einer Kundin, die die Schneiderin aufsuchte, um ihr Hochzeitskleid zu probieren. Das Kleid war fast fertig, im Leben wie im Traum. Die Kundin war nicht zufrieden, obwohl das Kleid wunderbar saß und die Schwangerschaft gut kaschierte. Nura dachte, sie koche besser einen Kaffee, um die Kundin zu beruhigen, die den Tränen nahe in ihrem neuen Kleid vor dem Spiegel stand. Auf dem Weg in die Küche batNura ihre Chefin, mit der Kundin zu sprechen, weil diese großen Respekt vor Dalia hatte. In diesem Augenblick hörten sie ein erleichtertes Lachen. »So ist es recht«, jubelte die Kundin. Sie hatte die Robe mit einer großen Schere eine Handbreit über ihren Knien abgeschnitten, so dass nur noch ein erbärmlich kurzes Kleid mit Zickzackrand übrig geblieben war.
    Nura war aufgewacht und hatte nach Luft geschnappt.
    »Nun ist dir der Beruf in Fleisch und Blut übergegangen, und bald macht er es sich bequem in deinem Hirn«, sagte Dalia und lachte, als Nura ihren Bericht beendet hatte. Das Kleid war Nuras erste selbständige Arbeit gewesen.
    Sie lernte fleißig und zog sich täglich nach dem Abendessen auf ihr Zimmer zurück und lernte die schwierigen Namen der Farben und der Stoffe und wiederholte manchen Schnitt und manche Naht auf den Stoffresten, die sie aus der Werkstatt mitnehmen durfte. Dalia konnte die elf Nuancen der Farbe Blau im Schlaf benennen, von »marin« bis Pflaumenblau, auch »prune« genannt. Von Rot gab es sogar sechzehn Nuancen von Kardinalrot bis Rosa, und sie verwechselte keine mit der anderen.
     
    Dalia war sehr direkt in ihrer Art, auch ihren Kundinnen gegenüber. Einmal hatte eine während der verschiedenen Anproben ihres Hochzeitskleids durch die vielen Einladungen im Vorfeld der Feier fürchterlich schnell zugenommen. Sie kam von Anprobe zu Anprobe dicker in die Schneiderei und Dalia hatte bereits dreimal alles neu markiert und abgesteckt. Als sie bei der nächsten Anprobe sah, dass die Kundin nicht mehr ins Kleid passen wollte, winkte sie mit der Hand ab: »Ich bin Schneiderin für Frauenmode und nicht für Hefeteig. Also Mädchen, entscheide dich, Hochzeitskleid oder Pistazien und Kuchen!« Die junge Frau wurde rot im Gesicht und eilte davon, kam aber zehn Tage später zurück, sehr blass, aber schlank.
    »Schöne Menschen brauchen keine Kleider, Gott selbst hat ihnen das schönste genäht. Aber diese Menschen sind selten, bei allen anderen besteht unsere Kunst darin, das Schöne zu betonen und das Hässliche zu verhüllen«, war Dalias Devise für ihren Beruf.
    Sie nähte stundenlang an ihrer Singer-Nähmaschine mit Fußpedal, auf die sie sehr stolz war. Für ihre Mitarbeiterinnen gab es drei ältere Maschinen mit Handkurbeln.
    Auch Jahre nach ihrer Flucht dachte Nura oft an Dalia, und an alles, was sie von dieser rätselhaften Frau gelernt hatte.
     
    13.
     
    W ie ich zu meinem ersten Mann kam, hat natürlich auch mit meinen Eltern zu tun«, erzählte die Schneiderin eines Tages. »Sie waren hier im Midan-Viertel sehr angesehen und hatten ein offenes Haus. Mein Vater und mehr noch meine Mutter tranken gerne Arrak, als wären sie Christen. Dabei waren sie beide gläubige Muslime, betrachteten aber die Gebote und Verbote nur als notwendige Regeln für die Ordnung primitiver Gesellschaften. Ich habe sie nie betrunken erlebt.
    Unser Midan-Viertel war seit der Osmanenzeit als rebellisch bekannt und blieb es auch unter den Franzosen. Manchmal wurde das ganze Viertel mit einem Gewirr aus Stacheldraht verriegelt und jeder kontrolliert, der ein oder aus wollte. Und als nicht einmal mehr das half, bombardierten die Franzosen das Viertel.
    Mein Vater war so etwas wie der Anführer. Man lebte sehr eng beieinander und kannte sich gut. Meine Eltern waren bekannt für ihre Gastfreundschaft, deshalb wurde ein Fremder höflich oder mit Gewalt zu meinem Vater geführt. Wenn der Fremde in Ordnung war, wurde er als Gast verwöhnt und alle Nachbarn bereiteten ihm ein Festessen. Hatte er jedoch schlechte Absichten, wurde er des Viertels verwiesen oder noch härter bestraft. Zwei Spione

Weitere Kostenlose Bücher