Das Geheimnis Des Kalligraphen
Liebesbriefe?«
Der Kalligraph lächelte kalt.
»Nein, es ist ein Spruch über die Liebe, hier ist er«, sagte Nassri, holte das kleine Stück Papier aus seiner Brieftasche und faltete es auf dem Tisch auseinander. Hamid Farsi las den Spruch. Er gefiel ihm.
»Wie groß soll es sein?«
»So groß wie meine Handfläche, aber, bitte sehr, edel, wenn es geht in Gold«, fügte Nassri hinzu.
»Eilt es?«
»Ja, wie immer. Und auch diesmal, bitte, einen entsprechenden Begleitbrief mit Ihrer wunderbaren Schrift, aber ohne Briefkopf und Adresse. Sie wissen schon, die Dame könnte es herumzeigen. Es reicht, wenn der Brief mit meinem Vornamen Nassri endet.«
»Aber Sie müssen mir sagen, was im Brief stehen soll. Ich formuliere es dann.«
Nassri saß in der Falle. Er hatte alles vorbereitet, nur nicht die Antwort auf eine solche Frage.
»Irgendwas ... Sie wissen schon. Etwas mit Liebe und so ... «, stotterte er und kam sich auf einmal lächerlich vor. Der Kalligraph amüsierte sich innerlich über diesen reichen Mann, der Weltformat zeigen wollte, aber nicht fähig war, zwei Sätze über seine Gefühle zu formulieren. »Gut«, sagte er von oben herab wie einer, der einem Ertrinkenden vom Boot aus die Hand reicht, »dann sagen Sie mir, was die Dame gerne mag, was das Schönste an ihr ist, und ich sehe, was sich daraus machen lässt.«
Nassri war seit seiner Kindheit nie etwas derart peinlich gewesen, doch dann begann er von den blauen Augen seiner Hure zu sprechen, von ihrem Körper und ihrem Liebreiz. Und schließlich erwähnte er ihre Bemerkung, die ihn erschüttert hatte, dass sie nämlich die Schrift mehr liebe als die Männer.
Der Kalligraph notierte alles. Er beneidete diesen Reichen darum, dass er eine Liebhaberin der Kalligraphie verehrte.
Als Nassri aus dem Geschäft auf die Straße trat, merkte er, dass er verschwitzt war.
12.
N och Jahre später dachte Nura mit Sehnsucht an die Zeit bei der Schneiderin Dalia. Drei Jahre verbrachte sie dort. Und wie viel sie dort gelernt hatte! Sie erzählte immer wieder, von ihrem Vater hätte sie lesen, von ihrer Mutter kochen und von Dalia leben gelernt.
Nura genoss die Arbeit bei Dalia auch deshalb, weil sie so ihrer Mutter entkommen konnte. Sie musste zu Hause weder kochen noch putzen. Sie hatte ja einen Beruf. Und davor hatte die Mutter großen Respekt.
Das Haus der Schneiderin lag an der Spitze zweier Gassen. Seine dreieckige Form war selten in der Stadt. Es sah wie der Bug eines mächtigen Dampfers aus und hatte zwei Haustüren, zu jeder Gasse hin eine. Es besaß keinen Innenhof, sondern einen schmalen Garten hinter dem Wohngebäude, der das Haus mittels seiner hohen Pflanzen von den Nachbarhäusern beider Gassen abschirmte. Eine alte knorrige Pomeranze, eine hohe Palme und zwei Zitronenbäume bildeten die Säulen eines Dschungels. Dazwischen wuchsen Oleander und Rosen mächtig in die Höhe. Jasmin webte vor den Nachbarhäusern einen engmaschigen Vorhang aus weißen Blüten und dunkelgrünen Blättern.
Die Terrasse, wie ein Schachbrett mit roten und weißen Fliesen belegt, schmückte ein winziger Springbrunnen. Dieser Ort diente der Schneiderin und ihren Mitarbeiterinnen als Ruheplatz. Hier tranken sie zehn Monate im Jahr ihren Tee und Kaffee, und hier durften sie auch rauchen. In der Werkstatt war das streng verboten.
Die Schneiderei lag im Erdgeschoss. Sie verfügte über einen schönen Empfangssalon, zwei lichte Werkstatträume, eine große Küche und ein kleines Lager für Material. Als Toilette diente ein verstecktes Häuschen im Garten hinter der Pomeranze.
Im ersten Stock wohnte Dalia. Dort wollte sie nicht besucht werden, auch von Nura nicht. Zur Mansarde im zweiten Stock gelangte man über eine Treppe, die an der hinteren Fassade hinaufführte. Neben der Mansarde war noch eine große Fläche zum Aufhängen der Wäsche. Aber das Dach war nicht wie bei Nura zu Hause durch ein Geländer abgesichert. Ungern ging Nura dort hinauf, um Wäsche aufzuhängen oder zu holen. Es wurde ihr schwindlig auf der Treppe, die immer ein wenig schwankte.
Dalia liebte das Haus, das sie selbst gekauft und wiederhergerichtet hatte. Das Erbe ihres Vaters hatten ihre vier Brüder unter sich aufgeteilt. Trickreich hatten sie Dalia nach dem Tod der Eltern enterbt, als diese mit persönlichen Katastrophen mehr als genug belastet war. Als sie den Betrug bemerkte, war es zu spät. Sie sprach bis zu ihrem Lebensende kein Wort mehr mit ihren Brüdern und deren Söhnen
Weitere Kostenlose Bücher