Das Geheimnis Des Kalligraphen
zu tragen und deponierte sie in ihrer Schublade bei der Schneiderin. Ihre Mutter riet ihr, niemandem von der Brille zu erzählen, denn die Leute wollten keine bebrillte, geschweige denn eine weitsichtige Schwiegertochter.
Dalia dagegen trug stets eine dicke Brille und Nura war überrascht,als sie sie einmal abnahm. Auf einmal hatte sie schöne große Augen und nicht wie sonst kleine Erbsen in den Ringen aus Glas.
Nura liebte die Ruhe, wenn sie über Stunden hinweg eine leichte mechanische Arbeit ausführen musste, dann hatte sie Zeit, sich Gedanken über alles Mögliche zu machen. Merkwürdigerweise dachte sie nie über Heirat nach, wie die anderen Frauen bei Dalia. Sie wollte gerne jemanden leidenschaftlich lieben, von ihm um Herz und Verstand gebracht werden, doch sie traf niemanden. Oft setzte sie in ihrer Fantasie den Mann ihrer Träume aus Einzelteilen zusammen, den Augen eines Bettlers, dem Geist und Verstand ihres Vaters, dem Witz des Eisverkäufers und der Leidenschaft des Bohnenverkäufers, der Stimme des Sängers Farid al Atrasch und dem leichten Gang von Tyron Power, den sie im Kino bewundert hatte.
Manchmal musste sie lachen, wenn ihr der Gedanke kam, dass durch einen Fehler vielleicht eine falsche Montage entstand und der Mann ihrer Wünsche so klein wie ihr Vater wäre, mit Bauch und Glatze des Bohnenverkäufers, dem nichtssagenden Gesicht des Sängers und dem verdorbenen Charakter von Tyron Power.
Eines Tages kam eine Mitarbeiterin ganz aufgelöst zur Arbeit und erzählte schluchzend, sie sei durch die Prüfung gefallen. »Welche Prüfung denn?«, fragte Dalia.
»Die Brautprüfung«, sagte die junge Frau weinend. Dalia ging erleichtert zu ihrer Nähmaschine zurück. Die Mitarbeiterin musste an dem Tag in der Küche aufräumen, Kaffee kochen und gegen Mittag nach Hause gehen und sich erholen, damit die Kundinnen nicht ihr verweintes Gesicht sehen konnten.
Und was war geschehen? Die Eltern eines jungen Metzgers hatten die Frau als Braut für den Sohn ins Auge gefasst. Sie wurde gemustert, man zupfte an ihr herum und war unzufrieden, weil sie schlechte Zähne hatte und vor Aufregung schwitzte. Im Hammam endete die Brautschau mit einer Niederlage, da sie zwei große hässliche Narben am Bauch der Frau entdeckten. Aus der Traum!
Während die junge Frau in der Küche verzweifelt über ihr Schicksal jammerte, erinnerte sich Nura an einen Bildband mit französischer Malerei, in dem eine schöne nackte Frau mit zartem Körper und hellerHaut auf dem Sklavenmarkt von einem grobschlächtigen vermummten Mann abgetastet wurde. Er überprüfte ihre Zähne, wie Bauern es machen, wenn sie einen Esel kaufen wollen.
Nuras Mutter war begeistert von den Fähigkeiten ihrer Tochter als Schneiderin. Und sie blieb ihr Leben lang stolz auf das Hauskleid, das Nura ihr zum Opferfest schenkte. Es war dunkelrot mit hellen Arabesken. Der Schnitt war einfach und Nura hatte sich nicht einmal besondere Mühe gegeben.
Nie zuvor und nie danach sah sie ihre Mutter so gerührt wie an diesem Tag. »Mein Leben lang wollte ich Schneiderin werden und Menschen mit Stoffen schön anziehen«, seufzte sie, »doch mein Vater betrachtete es als Schande, wenn eine Frau ihr Brot durch Arbeit verdient.«
Merkwürdigerweise hatte die Mutter absolutes Vertrauen zu Dalia, obwohl diese so ungnädig sein konnte. Als Nura ihr einmal erzählte, dass sie mit der Schneiderin in das Haus eines reichen Mannes eingeladen war, für dessen Frau Dalia schneiderte, hatte die Mutter nichts dagegen. »Dalia ist eine Löwin, sie wird gut auf dich aufpassen«, sagte sie vertrauensvoll, »aber sag deinem Vater nichts. Er mag Reiche nicht und verdirbt dir den Besuch mit einer Predigt.«
»Machen wir Schluss für heute«, sagte Dalia eines späten Nachmittags und beendete die letzte Naht am Sommerkleid für eine gute Freundin.
Dalia prüfte das Kleid ein letztes Mal und übergab es Nura, die es auf einen Bügel spannte und glättete. »Das wird Sofia mindestens zehn Jahre jünger machen«, sagte sie.
Sie nahm die Arrakflasche, die Zigaretten und ein Glas und trottete hinaus zur Terrasse. Dort drehte sie den Hahn des Brunnens auf, und das Wasser plätscherte leise in das kleine Becken. Nura folgte ihr. Ihre Neugier brachte endlich das Gespräch auf Dalias Leben nach dem Tod ihres Mannes. »Kadir, mein zweiter Mann«, erzählte sie, »war Automechaniker. Er war mein Cousin und arbeitete am Rand von Damaskus in einer großen Autowerkstatt. Ich kannte ihn
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