Das Geheimnis Des Kalligraphen
und Töchtern, die immer wieder versuchten, sich mit der bekannten und begehrten Schneiderin zu versöhnen.
»Erst gebt ihr mir zurück, was eure Väter mir geraubt haben, sonst schert euch zum Teufel mit eurer Schleimerei«, wies sie die Verwandtschaft barsch ab.
Das Haus der Schneiderin Dalia war nur einen Steinwurf von Nuras Haus entfernt. Das war am Anfang der einzige Nachteil, denn Nuras Mutter tauchte in den ersten Wochen mehrmals am Tag auf, um der Tochter irgendetwas mitzuteilen. Nura genierte sich, weil ihre Mutter mit ihr wie mit einem kleinen Mädchen sprach. Dalia merkte schnell, dass ihre junge Mitarbeiterin genervt war. Eines schönen Morgens machte sie der Peinlichkeit ein Ende. »Hör mal gut zu«, fuhr sie die Mutter an und sah von ihrer Nähmaschine auf, »erziehe deine Tochter bei dir zu Hause. Hier muss sie von mir etwas lernen. Niemand außer mir hat ihr hier etwas zu sagen. Haben wir uns verstanden?«
Die Mutter hatte verstanden und kam nie wieder. Aber seltsamerweisenahm sie der Schneiderin diese Zurechtweisung nicht übel. »Sie ist eine starke Frau. Drei Männer hat sie ins Grab geschickt. Sie weiß, was sie will«, sagte sie.
Nura lag lange wach in jener Nacht. Wie konnten sich ihre Eltern auf Dauer ertragen? Ihr Vater war ein unbelehrbarer Menschenfreund, der sogar in einem Verbrecher einen armen Menschen sah, der Liebe brauchte. Ihre Mutter dagegen misstraute Menschen. In jedem Passanten sah sie einen Wolf in Männergestalt, der mit einem freundlichen Lächeln getarnt auf Nura wartete, um sie zu fressen. »Mama, kein Mann lacht mich an, und wenn es einer tut, werde ich ihn zum Teufel schicken«, heuchelte sie, um die Mutter zu beschwichtigen. Sie verschwieg ihre Ängste vor dem Friseur, dessen Blicke ihre Haut versengten, und auch ihre Zuneigung, die sie für den Bohnenverkäufer Ismail empfand, dessen Laden nicht weit von ihrer Gasse lag. Er war immer freundlich, gut angezogen und sauber rasiert, aber auch hässlicher als alle Männer im Viertel. Er hatte ein Gesicht wie ein Geier und einen Körper wie ein Nilpferd, aber er war immer bester Laune und pries lauter als die Straßenbahn seine gekochten Bohnen, gebratenen Falafel und anderen kleinen vegetarischen Gerichte an, die er über die Theke verkaufte. Der Laden war so klein, dass nur er selbst, seine Töpfe und Frittierkessel hineinpassten. Nuras Vater sagte, wenn Ismail noch ein wenig zunähme, fände er keinen Platz mehr für den Salzstreuer. Und doch lobte er wie alle Nachbarn Ismails Gerichte, deren Geheimnisse er von seinen Vorfahren geerbt hatte. Seit zweiundzwanzig Generationen, das stand über der kleinen Tür, kochten und frittierten sie Gemüse in diesem Laden. Und man erzählte, dass der osmanische Sultan Selim auf dem Weg nach Palästina und Ägypten hier angehalten habe, weil der Duft aus dem Laden ihm Appetit machte. Der Sultan habe dem Inhaber einen Dank geschrieben, der nun seit vierhundert Jahren im Laden hing und der bis zum Ende des osmanischen Reiches jedem Beamten verbot, die Besitzer des Ladens zu behelligen.
Wenn Ismail Nura sah, zurrte er seine Lippen zu einem Kuss zusammen, und manchmal gab er sogar seinem gewaltigen Schöpflöffel einen beherzten Kuss und ließ dabei seine Augenbrauen andeutungsvoll tanzen.
»Damaszener Rose, heirate mich«, rief er ihr zu, als sie eines Morgens in Gedanken versunken an seinem Laden vorbeiging. Sie erschrak kurz, dann lachte sie ihn an. Und seit diesem Tag empfand sie so etwas wie Wärme, wenn sie ihn sah, und sie ging von nun an erhobenen Hauptes und mit langsamen Schritten an seinem Laden vorbei und genoss den Schwall seiner poetischen Worte.
Welche Gefahr sollte von diesem beleibten Mann ausgehen? Im Traum erschien er ihr zweimal als Falafelbällchen, das in Öl schwamm, Bläschen warf und ihr im Singsang zurief: »Iss mich, iss mich.« Sie wachte lachend auf.
Nein, Nura hatte ihrer Mutter ab dem zehnten, elften Lebensjahr nichts mehr anvertraut, um sich selbst und sie zu schonen.
Dennoch kam es immer wieder zum Streit, wenn die Mutter etwas entdeckt hatte, was ihre Angst um Nura schürte.
Damals vergötterten alle jungen Frauen den Sänger und Schauspieler Farid al Atrasch, der melancholische und populäre Liebeslieder sang. Er besaß die traurigste Stimme der arabischen Welt, die alle Frauen zum Weinen brachte. Woche für Woche berichteten die Zeitungen über seine Herzerkrankung. Farid al Atrasch blieb sein Leben lang Junggeselle, man sagte ihm nach, dass er
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