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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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Sollte er ihr sagen, dass er sich unsterblich in sie verliebt hatte? Besser nicht. Denn er hatte Angst vor ihrem Lachen. Sie hatte einmal erwähnt, dass sie über nichts herzhafter lachen könne, als wenn verheiratete Männer ihr kurz vor dem Orgasmus ihre unsterbliche Liebe erklärten. Kaum seien sie fertig, lägen sie neben ihr, unbeweglich und verschwitzt, und dächten mit Gewissensbissen an ihre Frauen.
    Nassri schwieg und beschimpfte seine Feigheit. Bald, als sich die Hure wusch und ihn – wie immer kurz vor dem Abschied – kühl anlächelte, war er dankbar, dass seine Vernunft gesiegt hatte. Er zahlte und ging.
    Nassri schwor, sich nie in eine Hure zu verlieben. Aber von nun an schenkte er ihr dann und wann eine Kalligraphie und gab ein wenig damit an, dass er es war, der die Begleitbriefe diktiert habe.
    Nassri war verblüfft, dass die junge Hure genau wie der Präsident ausführlich über Details der Kalligraphie zu sprechen wusste, die ihm entgangen waren; viele der Wörter, deren Buchstaben sich zu einem undurchdringlichen Wald aus feinen Strichen verschlungen hatten, konnte er nicht einmal entschlüsseln. Der Präsident und die Hure lasen hingegen jedes Wort, als wäre dies die einfachste Sache der Welt. Und erst wenn sie ihm vorlasen, traten auch für ihn die Wörter aus dem Buchstabendickicht heraus.
    Er hätte gerne mit dem Kalligraphen über das Geheimnis seiner Kunst gesprochen, doch die Fragen erstarben auf seiner Zunge. Er hatte Sorge, gegenüber diesem eingebildeten Mann seine Überlegenheit zu verlieren, wenn er sein Unwissen zugab.
    Nur ein einziges Mal bot sich die Gelegenheit, doch noch einen Zipfel des Geheimnisses zu lüften. Als er nämlich eines Tages das Atelier des Kalligraphen aufsuchte und ihn nicht antraf, bat ihn der ältere Geselle, auf Wunsch des Meisters, zu warten. Man zeigte ihm die Kalligraphie, damit er Trost finden sollte. Es war ein Gemälde aus senkrechten schlanken Linien und schwungvollen Schlaufen sowie einer Menge Punkte, das als Segensspruch für den Präsidenten gedacht war. Aber mehr als Allah konnte er nicht entziffern.
    »Ich bin kein Fachmann«, sagte er, »und möchte Sie bitten, mir das Bild zu erklären.«
    Der Mitarbeiter war etwas verwundert, lächelte aber freundlich und fuhr mit dem Zeigefinger über die Glasscheibe, entlang der Buchstaben eines jeden Wortes, und plötzlich schlüpfte ein ganzer Satz aus dem Knäuel: Führer des Volkes, Oberst Schischakli, Gottes Hand ist mit dir.
    Nassri war erstaunt, wie einfach sich der Text lesen ließ, aber schon nach wenigen Minuten verschwamm er wieder vor seinen Augen. Was blieb, waren die einzelnen Wörter, Allah, Schischakli und Führer. Der Rest verschwand im Wald der goldenen Buchstaben.
     
    Das Jahr 1954 fing schlecht an. Überall kam es zu Kämpfen gegen die Regierungstruppen. Präsident Schischakli stand unter Druck und sagte die wöchentlichen Treffen ab. Nassri sah ihn nur noch in den Zeitungen, und er erschien ihm blass und geschrumpft in seiner Uniform, sein Blick war verloren und traurig. Nassri dachte wieder an den Bauernsohn, der ihm einsam und verletzt sein Herz geöffnet hatte. »Nur Disteln und Narben«, flüsterte er beim Anblick des traurigen Gesichts.
    Im Frühjahr stürzte ein unblutiger Aufstand der Bevölkerung den Oberst. Der Präsident hielt eine kurze Abschiedsrede und verließ das Land, die Taschen gefüllt mit einer Menge Gold und Dollars. Nassri war für Wochen voller Trauer. Er habe nichts zu befürchten, sagte ihm sein Geschäftsführer Taufiq. Die neue demokratische Regierung werde das Land öffnen, und in Zeiten der Freiheit werde sich niemand an den Händlern vergreifen. Ihn persönlich habe dieser primitive Bauernsohngenervt, der von nichts eine Ahnung hatte, sich aber zu allem und jedem äußern musste.
    »Von nun an musst du nicht mehr monatlich eine teure Kalligraphie liefern«, sagte Taufiq und lachte.
    Nassri war über die Kälte und Undankbarkeit seines Geschäftsführers entrüstet. Ihm tanzte das Wort der Entlassung seines langjährigen Mitarbeiters auf der Zunge, doch er zähmte seinen Zorn, als er den Jubel der Nachbarschaft hörte, die noch vor kurzem auf Demonstrationen ihr Leben für den Präsidenten opfern wollte. Er tröstete sich mit der Erkenntnis, Damaskus sei eine Hure, die für jeden Herrscher die Beine breitmacht. Und der nächste Herrscher hieß parlamentarische Demokratie.
    Nassri hatte das Empfinden, den gestürzten Oberst wie einen Bruder innig geliebt zu

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