Das Geheimnis Des Kalligraphen
haben, ohne es sich all die Jahre über einzugestehen. Er litt unter einem sich wiederholenden Alptraum, in dem er den Präsidenten sah, wie dieser die Tür seines Hauses öffnete und einen Fremden anlächelte, dessen Gesicht Nassri nicht erkennen konnte. Das Lächeln erstarrte zu einer Maske, als der Fremde seine Pistole auf den Obersten richtete und abfeuerte. Nassri wachte jedes Mal schweißgebadet auf.
Das Land geriet nicht in Chaos, wie Oberst Schischakli vermutet hatte. Im Sommer 1954 schienen Nassri die Damaszener friedlicher als sonst, sie lachten etwas lauter als früher, und kein Mensch sprach mehr über den gestürzten Präsidenten. Nie hatten die Bauern eine bessere Ernte eingefahren als in jenem Sommer. Und die Kioske hatten plötzlich über zwanzig Zeitungen und genauso viele Zeitschriften, die um die Leser warben.
Die Hure Asmahan ließen der Aufstand und die Vertreibung des Präsidenten kalt. »Männer sind bei mir alle gleich. Wenn sie nackt sind, unterscheide ich nicht zwischen einem Gemüsehändler und einem General«, sagte sie ohne Gefühl. »Nacktheit tarnt besser als Karnevalmasken.« Nassri lief es kalt den Rücken runter, als er auf dem Heimweg die Bedeutung dieser Sätze verstand.
Aber sie schätzte seine Kalligraphien und genoss die Briefe, die er angeblich dem Kalligraphen diktierte. Sie enthielten Sprüche undLobeshymnen auf den Genuss und auf die Lebensfreuden. Aber keiner dieser Briefe enthielt auch nur ein Wort über die tiefe Liebe, die Nassri für Asmahan empfand. Als diese Liebe, wenn auch in einem Nebensatz, einmal durchschimmerte, bat Nassri den Kalligraphen um einen neuen Begleitbrief. »Ich will nicht, dass sie mich missversteht. Frauen gewichten die einzelnen Wörter sehr genau und denken auch manchmal um die Ecke, nicht wie wir Männer, die stets geradeaus denken. Und diesen Kummer will ich mir ersparen.«
Farsi gab zu, dass der Satz so verstanden werden könne, als könne Nassri vor Sehnsucht nicht einschlafen. Er ahnte aber nicht, dass nicht dichterische Fantasie diese Zeilen diktiert hatte, sondern eine prophetische Ahnung. Die Sehnsucht nach Asmahan hatte Nassri damals fast zerrissen. Wenn er nur den Namen Asmahan hörte, wurde ihm warm ums Herz, und obwohl er sich täglich schwor, sie zu vergessen, musste er feststellen, dass sein Herz ihm nicht gehorchte. Er musste lernen, dass man nicht beschließen kann, sich nicht zu verlieben, so wie man nicht beschließen kann, nicht zu sterben. Nassris Unglück bestand darin, niemandem, auch dem Apotheker Elias nicht, von seiner brennenden Verliebtheit und Eifersucht auf die anderen Freier erzählen zu können, ohne sich lächerlich zu machen. Wer sollte verstehen, dass ein gestandener Mann mit drei Frauen noch wie ein brunftiger Jugendlicher bei einer Hure kopflos wurde?
Keiner wusste, dass Nassri seit seiner Kindheit davon überzeugt war, niemanden lieben zu dürfen, und sollte er es trotzdem wagen, würde ihm der geliebte Mensch entzogen. Als Kind achtete er seinen Vater, seine Mutter dagegen nicht. Sie war für ihn eine von vielen Frauen im Haremhaus. Er begann sie erst zu lieben, als er, fast zwanzig, von ihrer Güte überzeugt war. Von da an verehrte er sie über alle Maßen. Seine dritte Frau hatte er nur deshalb geheiratet, weil seine Mutter sie ins Herz geschlossen hatte. Nasime hatte in der Tat einen guten Charakter und eine wunderbare Zunge, doch war sie zu seinem Leidwesen hässlich. Und was tat die Mutter, statt sich über die Verbindung zu freuen? Sie starb einen Tag nach seiner Hochzeit.
Oft lag er wach und dachte darüber nach, welcher Fluch ihn verfolgte, oder ob die Liebe ein See sei, den der Mensch mit Heirat undArbeit zuschütte, um nicht darin zu ertrinken. Wie oft liebte er Frauen, die er nicht erreichen konnte. Und hatte er nicht immer unter Zwang geheiratet? Zu seiner ersten Frau Lamia zwang ihn sein Vater, bei seiner zweiten Frau das Gewehr ihres Bruders, bei der dritten Frau wollte er seiner Mutter einen Herzenswunsch erfüllen. Von Liebe konnte keine Rede sein.
Immer wieder beschloss er, Asmahan nicht zu lieben, um sie nicht zu verlieren, doch sobald er in ihren weichen Armen lag und sich in die Tiefe ihrer blauen Augen versenkte, verlor er die Kontrolle über sein Herz. Einmal sang er sogar laut, während er mit ihr schlief, obwohl er wusste, dass seine Stimme grässlich war.
»Du kannst ruhig wie Tarzan brüllen, das ist lustig, aber schau mich dabei nicht so schmalzig an«, sagte Asmahan,
Weitere Kostenlose Bücher