Das Geheimnis Des Kalligraphen
wenn ihr Mann neben ihr stand oder schlief, empfand sie diese Distanz, die es ihr ermöglichte, ihn immer genau zu beobachten.
Er war fanatisch in allem, was er dachte und tat, verbarg jedoch die scharfen Spitzen seiner Meinung unter einer dicken Schicht Höflichkeit. In allem wollte er der Beste sein, aber abgesehen von der Kalligraphie war er unerfahren wie ein kleiner Junge. Oft bemerkte sie, wie ihr Vater ihm gegenüber nachgab, um ihn nicht bloßzustellen. Als sieihren Vater einmal darauf ansprach, antwortete er: »Aber Kind, du hast recht, er hat in vielen Dingen nur seine Vermutungen, die er für Wissen hält, aber wenn ich ihn jede Woche blamiere, wird er uns bald nicht mehr sehen wollen, und das wäre schlimmer. Dein Gesicht zu sehen ist mir wichtiger als alles Rechthaben auf der Welt.«
Aber nicht nur in theologischen, philosophischen oder literarischen Fragen, sondern auch in vielen anderen wollte Hamid immer der Beste sein, obwohl er außer seiner Tageszeitung nichts las. Nach jahrelangem Kampf um die Ehre des angesehensten Kalligraphen war er als Sieger hervorgegangen, und wie fast alle Sieger war er von sich selbst berauscht.
Als er Nura geheiratet hatte, war er so berühmt, dass er sich, trotz stolzer Preise, kaum vor Aufträgen retten konnte. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als vieles an seine Mitarbeiter zu delegieren. Die Entwürfe und die letzten Retuschen blieben ihm natürlich vorbehalten. Und die wichtigsten Aufträge, Briefe und Lobesreden in edelster Schrift erledigte er immer noch eigenhändig und mit ungeheurem Genuss. Er verlangte viel, aber seine Werke waren einmalig. Und es schmeichelte ihn, wenn Akademiker, Politiker oder reiche Händler, beglückt über den Erfolg, den sie durch seine Arbeit hatten, ihn extra aufsuchten, um ihm zu danken.
»Was ich in Auftrag gab«, sagte ihm einer der Kunden, »war ein hässliches Skelett meiner Wünsche, und du hast es mit Seele, Fleisch und Blut zum Leben erweckt.«
Vor allem reiche Bauern, die sich im Dschungel der Hauptstadt nicht auskannten, baten Hamid Farsi um einen Brief. Sie fragten nie nach dem Preis, denn sie wussten, dass seine Briefe Tore öffnen würden. Briefe, deren einzelne Seiten kunstvolle Unikate waren. Nicht ein einziges Mal wiederholte Hamid ein Schema. Deshalb gab er die vollendeten Stücke auch nur unwillig aus der Hand.
Er beschäftigte sich tagelang mit Sinn und Zweck eines Briefes und gab ihm genau die entsprechende Form, die die Schrift in Musik verwandelte, in ein Reiten auf einer Welle, die den Leser genau da hinführte, wo der Auftraggeber ihn haben wollte.
Er fühlte sich bei seiner Arbeit sehr einem Komponisten verwandt. Schon sein Meister hatte seinen Sinn für die Musik der Schrift gelobt. Während die anderen nie ein wahrhaftiges Gefühl dafür entwickelten, wie lang eine Dehnung sein musste, wie viele Rundungen ein Wort vertrug und wo die Punkte platziert werden mussten, beherrschte er diese Kunst aus dem Gefühl heraus perfekt. Dissonanz in der Komposition seiner Blätter ließ er aus tiefstem Instinkt heraus nicht zu.
Die arabische Schrift ist wie geschaffen dafür, Musik für das Auge zu sein. Da sie immer gebunden geschrieben wird, spielt die Länge der Bindung zwischen den Buchstaben eine große Rolle bei der Komposition. Die Dehnung und Kürzung dieser Bindung ist fürs Auge wie die Verlängerung oder Kürzung der Dauer eines Tones für das Ohr. Das A(lif) , das im Arabischen ein senkrechter Strich ist, verwandelt sich in einen Taktstrich für den Rhythmus der Musik. Aber da wiederum die Größe des Buchstabens A(lif) nach der Proportionslehre die Größe aller anderen Buchstaben bestimmt, beteiligt er sich auch an der Höhe und Tiefe der Musik, die die Buchstaben waagerecht auf jeder Zeile bilden. Und auch die unterschiedliche Breite sowohl der Buchstaben als auch der Übergänge am Fuß, Rumpf und Kopf der Buchstaben, von haarfein bis ausladend, beeinflusst diese Musik fürs Auge. Die Dehnung in der Horizontalen, das Wechselspiel zwischen runden und eckigen Buchstaben, zwischen senkrechten und waagerechten Linien nimmt Einfluss auf die Melodie der Schrift und erzeugt eine leichte, verspielte und heitere, eine ruhend melancholische oder gar eine schwere und dunkle Stimmung.
Und möchte man sorgfältig mit den Buchstaben musizieren, so erfordert die Leere zwischen den Buchstaben und Wörtern noch größeres Geschick. Die leeren Räume einer Kalligraphie sind Augenblicke der Stille. Und wie in
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