Das Geheimnis Des Kalligraphen
überlebt. Geschichten sind Samen. Deshalb lieben Frauen mehr als Männer Geschichten. Deshalb hören sie besser zu.«
Nura versuchte, Hamids Neugier zu wecken, und erzählte ihm beim Abendessen vom Schicksal der um sie herum lebenden Familien, von wundersamen Ereignissen und abenteuerlichen Begebenheiten. Aber sie merkte bald, dass er nicht zuhörte.
»Halte dich von den Gezeichneten und Benachteiligten fern«, war sein einziger Kommentar, »Elend steckt an wie Grippe.« Woher er diese Sprüche hatte, die er dauernd aus dem Ärmel schüttelte, wusste sie nicht, und ernst nehmen konnte sie diese Äußerungen auch nicht. Bis zu jenem Tag jedenfalls nicht, an dem er ihre Freundin Buschra so herzlos und ungnädig hinauswarf.
Buschra war Badias Tochter und wuchs – wie einst Nura – in der Aijubigasse auf. Badia war es gewesen, die damals Nuras Ehe mit Hamid vermittelt hatte. Badia hatte fünf Söhne und Buschra. Die Tochter war bald der Liebling des Viertels, da sie so wunderschön hell und laut lachen konnte. Elias, der Süßigkeitenverkäufer, schickte ihr manchmal einen bunten Lutscher, weil ihm das helle Lachen ein Lächeln ins Gesicht zauberte und den Kummer vertrieb. Auch Nura liebte sie, und wenn ihr die sieben Jahre ältere Buschra den Kopf streichelte, sie manchmal sogar küsste und »meine Schöne« nannte, war die kleine Nura selig.
Eltern, Nachbarn und Schulkameradinnen erwarteten, dass der reichste Mann der Stadt Buschra auserwählen würde. Die Prophezeiung schien sich am Anfang auch zu bewahrheiten. Rechtsanwalt Kadri schickte – nachdem er Buschra, die gerade aus der Schule kam, an seinem Fenster vorbeigehen sah – seine Mutter, die mit Badia im Hammam alles vereinbarte. Anschließend soufflierten sie ihren Männern, und diese bildeten sich ein, sie würden gerade mit ihrem unbeirrbaren Sinn für Sippe und Anstand entdecken, wie gut die fünfzehnjährige Buschra und der fünfundzwanzigjährige Kadri zueinanderpassten.
Nach Buschras Hochzeit verlor Nura sie über sieben Jahre aus den Augen. Und dann plötzlich tuschelten die Leute im Viertel, dass BuschrasMann seine Cousine geschwängert habe und sie deshalb heiraten wolle. Diese aber bestand darauf, dass er sich von Buschra scheiden ließ. Kurz darauf zog Buschra mit ihren drei Töchtern zu ihren Eltern zurück. Sie war inzwischen zweiundzwanzig und sah blass aus, aber man sah ihr die drei Geburten nicht an. Sie war schlank und groß wie ihr Vater und hatte das schöne Gesicht ihrer Mutter.
Die Nachbarschaft staunte über die Mädchen. Sie sahen alle wie Kopien ihrer Mutter in verschiedenen Altersstufen aus. Die Älteste war sechs, die jüngste drei Jahre alt.
Nura lernte zu jener Zeit bei Dalia die Schneiderei und begann sich wieder mit Buschra zu treffen. Neben der derben Dalia war Buschra die zweite Frau, die ihr etwas über die Ehe erzählen konnte.
»Was willst du von einem Mann erwarten«, sagte sie einmal, »der dich in der ersten Nacht so lange ohrfeigt, bis du auf den Knien wiederholst: ›Ja, mein Herr, du bist der Herrscher und Besitzer meiner Seele und ich bin ein Nichts.‹ Nach sechs Jahren Ehe und drei Kindern entdeckte er seine Liebe zu seiner Cousine und ließ sich dann von mir scheiden«, erzählte sie Nura bei einem Kaffee.
Beide verstanden sich so gut, als wären sie all die Jahre enge Freundinnen gewesen. Nach etwa einem halben Jahr erfuhr Nura, dass Buschra zum zweiten Mal heiraten würde, diesmal Jusuf, einen Freund ihres Bruders, den sie immer schon gemocht hatte und der auch nichts gegen die drei Töchter hatte.
Nura freute sich über Buschras Glück, Dalia dagegen mochte den Mann nicht, der für diese große Frau zu eifersüchtig sei und eine zu kleine Seele habe. War Dalia betrunken oder meinte sie das ernst?
Es dauerte keine drei Jahre, und Buschra erschien unangekündigt zu Besuch bei Nura, die inzwischen verheiratet war.
Nervös und schnell trank Buschra ihren Kaffee, als wollte sie ihr Herz unbedingt erleichtern. »Er wurde verrückt vor Eifersucht, als ich ein Mädchen bekam«, erzählte sie, »er war sich sicher, er bekäme nur Jungen, die ihm ähneln. Dunia ist aber ein Mädchen, und sie sieht mir ähnlich. Er unterstellte mir, ich hätte noch Samen von meinem ersten Mann im Körper, der mich mein Leben lang befruchten würde. Der Arzt versicherte ihm, dass Samen spätestens nach ein paar Tagen absterben,aber es half alles nichts. Er beschuldigte den Arzt, mit mir zu schlafen, und rannte mit dem
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