Das Geheimnis Des Kalligraphen
singen, doch schon kurz darauf hörte sie vom Nachbarhaus einen giftigen Kommentar, der ihre Stimme versiegen ließ: »Wenn die Frau so aussieht, wie sie singt, dann schläft ihr Mann mit einer rostigen Gießkanne«, rief einer laut lachend über den Hof. Er war ein kleiner Mann mit einem freundlichen Gesicht, den sie fortan nicht mehr grüßen wollte.
Um sich abzulenken, begann Nura immer und immer wieder, das Haus zu säubern. Erst als sie merkte, dass sie die Fenster zum dritten Mal in der Woche mit einem Tuch polierte, warf sie das Tuch in die Ecke, setzte sich an den Brunnen und weinte.
Die Frauen in den benachbarten Häusern der Gasse waren ausnahmslos freundlich und offen, wenn sie bei ihnen zum Kaffee eingeladen war, stieß sie auf Aufmerksamkeit und Zuneigung. Die Frauen erfreuten sich ihrerseits an Nuras feiner Sprache und an ihrer Fähigkeit zu schneidern, und sie wünschten, dass Nura mit ihnen auch das Bad aufsuchen würde.
Man sah sich am frühen Vormittag, um bei einem duftenden Kaffee die Gerüchte der Nacht auszutauschen, und man saß nach der Siesta beim zweiten obligatorischen Kaffee zusammen.
Dazwischen halfen sie sich beim Kochen oder dem aufwendigen Kandieren und Konservieren von Obst und Gemüse.
Nura lachte viel mit den Nachbarinnen. Sie waren, anders als ihre Mutter, lebenslustig und nahmen alles und jeden auf den Arm, auch sich selbst. Sie besaßen vor allem List, mit der sie sich ihr Leben erleichterten. Nura lernte viel von ihnen.
Doch offen gesagt langweilten sie die Frauen. Sie waren einfache Menschen, die, sobald das Gespräch nicht um Männer, Kochen und Kinderkriegen ging, worin sie wahre Expertinnen waren, nichts über das Leben zu sagen hatten. Sie konnten weder lesen noch schreiben. Nach mehreren jämmerlich gescheiterten Versuchen, den Frauen irgendetwas über die Welt außerhalb ihres Ehetrotts beizubringen, blieb auch Nura stumm. Was sollte sie auch tun?
Das Telefon war ihre Rettung! Mit ihm konnte sie wenigstens den Kontakt zu den Freundinnen aus der Schulzeit wieder aufnehmen. Das erleichterte ihr das Leben ein wenig, wenn auch die Zeit weiterhin langsam verging. Sana, eine lustige Schulkameradin, riet ihr: »Schreibe ein Tagebuch über die Geheimnisse deiner Ehe. Vor allem über all das Verbotene, wonach du dich sehnst. Aber such dir erst ein sicheres Versteck dafür!«
Ein sicheres Versteck entdeckte Nura im Vorratsraum, wo es einen alten Schrank gab, dessen Bodenbrett leicht herauszunehmen war.
Sie begann zu schreiben und zugleich ihren Ehemann genauer zu beobachten. Was sie sah und ihre Empfindungen notierte sie in ein großes Heft. Sie lernte schreibend, die schwierigsten Fragen zu stellen, und auch wenn sie nicht immer eine Antwort darauf finden konnte,fühlte sie eine eigenartige Erleichterung, sie überhaupt gestellt zu haben.
Mit jeder Seite, die sie schrieb, vergrößerte sich die Distanz zu ihrem Ehemann. Seltsamerweise erkannte sie nun vieles an ihm, was sie bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Sie entdeckte, dass Hamid ein genialer Techniker war, aber anders als ihren Vater interessierte ihn nicht der Inhalt der Wörter, sondern viel mehr ihre Form. »Die Proportion und Musik muss stimmen«, erklärte er ihr eines Tages. »Ich kann nicht glauben, dass einen Kalligraphen nur die Schönheit der Wörter, aber nicht deren Inhalt interessiert«, schrieb sie in ihr Tagebuch und unterstrich die Zeile mit einem roten Stift.
Eines Tages brachte er einen bezaubernd geschriebenen und eingerahmten Spruch mit nach Hause, der im Salon seinen Platz fand. Nura konnte nicht aufhören, die Schönheit der Schrift zu loben, sie vermochte den Spruch aber nicht zu entziffern. Er war kunstvoll verwinkelt, gedreht und gespiegelt. Auch keiner der wenigen Gäste konnte ihn lesen, aber alle, auch ihr Vater, fanden das Gemälde, das die Buchstaben bildeten, unendlich schön, weil es angeblich Seele und Geist befriedigte. Als Nura ihren Mann bedrängte, den Inhalt zu verraten, grinste Hamid nur: »Mit Dünger wächst Gemüse schneller.« Nuras Schreck hielt er für ein Zeichen der Humorlosigkeit.
Hamid war wie in einer Burg umgeben von den Mauern seines stolzen Schweigens. Frauen hatten in dieser Burg nichts zu suchen. Zugelassen waren sein alter Meister Serani und der Ministerpräsident al Azm, dessen Haus in unmittelbarer Nähe des Ateliers lag und der als ergebener Bewunderer des Kalligraphen auch ein sehr guter Kunde war.
Aber selbst diese Männer blieben ihm trotz des
Weitere Kostenlose Bücher