Das Geheimnis Des Kalligraphen
ein Zentrum aufbauten. Salman konnte die Buchstaben beim Skizzieren noch erkennen, doch bald verschwanden sie in einer Arabeske, die schön und geheimnisvoll wie eine Rose war.
Jede Linie war scharf wie ein Messer, die Buchstaben sprangen aber erst dann richtig aus dem Papier hervor, als der Helfer Basem dem Buchtitel, den der Geselle Samad mit sicherer Hand geschrieben hatte, Schatten gab. Salman durfte zusehen. Die Gesellen hatten Freude an ihm, weil er blitzschnell all ihre Wünsche erfüllte.
Hamid Farsi schaute kurz herein, betrachtete den Titel, nickte zufrieden und schrieb seinen Namen unter die Kalligraphie, er notierte etwas in sein Auftragsheft und ging wieder hinaus, um seine Arbeit an einem komplizierten Gedicht fortzusetzen.
Salman nahm ein Schmierpapier, schrieb seinen Namen mit Bleistift und versuchte ihm Schatten zu geben. Das sah nicht einmal schlecht aus, aber die Buchstaben erhoben sich nicht wie bei Basem aus der Seite.
Als er am Nachmittag Tee für die Mitarbeiter kochte, lobten sie seinen Geschmack. Er hatte den Tee so sorgfältig bereitet, wie es ihm Karam beigebracht hatte. »Kaffee ist ein robustes Getränk und verträgt ein paar Fehler, der Tee aber ist der Sohn einer Mimose. Eine Unachtsamkeit und er kippt um und verliert seine Blüte«, hatte ihm Karam damals gesagt. Hamid Farsis Mitarbeiter beobachteten mit Neugier, wie Salman mit sichtlicher Begeisterung den Tee zubereitete. Das waren sie von den früheren Laufburschen nicht gewohnt. Sogar der große Meister Farsi war begeistert: »Bald machst du deinem früheren Chef Konkurrenz«, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck von dem duftenden Ceylontee.
»Du darfst die Sonne keine Sekunde vergessen«, sagte Basem freundlich, »schau her, wenn ich eine Linie male, die sich dreht und wendet, gerade und im Zickzack weiter verläuft, und die Sonne dort oben links einsetze, wohin fällt dann der Schatten?«
Und er zeichnete langsam den Schatten ein und trank dabei seinen Tee, und Salman sah, wie der Schatten die Linie begleitete und seine Form in Abhängigkeit von den Wendungen veränderte. Meister Hamid schaute kurz in die Werkstatt und nickte zufrieden, als er sah, wie sich sein Helfer um den jungen Burschen kümmerte. Salman sprang vom Hocker auf und stellte sich in Position. Hamid lächelte: »Bleib sitzen, wir sind hier nicht in einer Kaserne, und pass auf, was dir Basem sagt.«
Auch in den nächsten Tagen saugte Salman tüchtig alles auf, was er hörte und sah. Alles war für ihn neu und geheimnisvoll. Sogar Papier und Tinte wurden auf einmal eine interessante, neue Welt.
Jeden Freitag, wenn der Meister – wie alle Muslime – seinen Ruhetag hatte und sein Atelier geschlossen blieb, ging Salman den ganzen Tag in die Kammer, die Karam für ihn hergerichtet hatte. Es war ein schönes kleines Zimmer mit einem Schreibtisch, einem uralten, aber bequemen Hocker, einem schmalen Bett und einem winzigen Regal. Die Kammer war hell, die Wand nach Norden hatte ein großes Fenster auf der Höhe des Schreibtischs, durch das im Frühjahr der schwere Duft von Myrthe ins Zimmer kam. Sogar elektrisches Licht war vorhanden.
Salman bekam einen Schlüssel und durfte von nun an außer montags immer kommen. Als Gegenleistung musste er Wasser aus dem Fluss pumpen, die Sträucher, Rosen und Bäume bewässern und dazu die Einkäufe für Karam erledigen und das Haus saubermachen. Das war leicht, denn der Boden war mit bunten Fliesen bedeckt, und Karam kam außer am Montag nur zum Schlafen. Eine Wäscherei kümmerte sich um seine Wäsche.
»Das Telefon in der Küche darfst du benutzen, aber nimm nie ab, wenn es klingelt«, sagte Karam. Er selbst telefonierte viel, wenn er zu Hause war.
Zwei große Hefte hatte Salman von Karam bekommen, eines für die Schreibübungen und eines für die Geheimnisse und Rezepturen.
Salman begann sich nach den Freitagen zu sehnen, an denen er genüsslich seine Eindrücke aufschreiben und die vielen Bemerkungen und Notizen von den kleinen Zetteln sauber in die Hefte eintragen konnte. Jedes Mal, wenn er sein Zimmer betrat, fand er zwei, drei Gedichte, die Karam ihm hingelegt hatte. Er sollte sie auswendig lernen. »Gedichte öffnen dein Herz für die Geheimnisse der Sprache«, sagte Karam und Salman schämte sich, wenn er sie einmal nicht behalten konnte.
Die Kalligraphie war ein neuer Kontinent, den Salman bereiste. Allein wie leise die Leute miteinander sprachen! Sie flüsterten! In den ersten Tagen fiel Salman in
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