Das Geheimnis Des Kalligraphen
Buchstaben in ihrer Harmonie auf der Geometrie basieren, die der geniale Kalligraph Ibn Muqla vor mehr als tausend Jahren erfunden hatte. Diese hat mit der Dualität von Bogen und Geraden, von Zusammenziehen und Entspannen, von Sichtbarem und Verborgenem zu tun. Bald versuchte Salman auch die sieben verschiedenen Stile der arabischen Schrift zu unterscheiden. Manche Stile fielen ihm leicht. Er verliebte sich in den populären Nas-chi-Stil, in dem die meisten Bücher geschrieben werden, und fürchtete sich vor dem Tulut-Stil. Aber er lernte stets mit großem Eifer, was Hamid manchmal sogar lobend erwähnte.
Fast bei jedem Kapitel dieses kleinen Buches stieß er auf den Namen Ibn Muqla. Die Mitarbeiter wussten wenig über dieses Genie. Doch es verging keine Woche, ohne dass Salman von seinem Meister Lobeshymnen auf den genialen Kalligraphen hörte, der in Bagdad gelebt hatte und dessen Proportionslehre immer noch gültig war.
Hamid Farsi sagte über Ibn Muqla: »Wir lernen die Kunst. Er hat sie gelehrt, denn Gott hat sie ihm geschenkt. Deshalb konnte er in seinem kurzen Leben so viel für die Kalligraphie tun, wie Hunderte von Kalligraphen es nicht vermochten.«
Am selben Abend schrieb Salman diesen Satz in sein Heft und machte neben dem Namen Ibn Muqla ein großes Fragezeichen.
Im Verlauf des Jahres 1956 lernte Salman nahezu alles über die Fundamente der arabischen Kalligraphie, ihre Elemente, das Gleichgewicht der Zeilen und der Fläche, den Rhythmus einer Kalligraphie, die wie die Musik Regeln folgte, die Dominanz eines Teils der Wörter oder der Buchstaben über die anderen auf einem Blatt, die Harmonie, die Symmetrie, den Kontrast, die Überlappung und Spiegelung und vor allem über das Geheimnis der Leere zwischen den Buchstaben.
Doch das Wichtigste, was er in diesem Jahr zum ersten Mal in seinem Leben lernte, war, eine Frau zu lieben.
20.
N uras Onkel Farid war wieder einmal unglücklich in seiner neunten oder zehnten Ehe. Sie konnte sein Geschwätz über Frauen nicht mehr hören. Er lernte die einsamen Frauen kennen, wenn sie bei ihm Briefe bestellten und sich dann in seine Schrift und seine poetischen Worte verliebten. Die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten. Auch hörte er nicht auf, anderen Frauen den Hof zu machen. »Ehe braucht Reife, und dein Onkel ist immer noch ein dummer Junge«, sagte ihr Vater eines Tages, als er von der nächsten Scheidung seines Schwagers hörte. Nura hatte das Gefühl, dass ihr Onkel eines nicht zur Kenntnis nahm, die Zeit. Er war sehr gealtert und wirkte mit seinem beachtlichen Umfang in einem weißen Anzug und roten Schuhen ziemlich lächerlich. Sein Charme gegenüber Frauen war zur lästigen Attitüde eines zahnlosen Casanovas geworden. Als er Nura wieder einmal besuchte, schickte sie ihn weg. Sie bat ihn darum, nur zu kommen, wenn ihr Mann daheim sei, weil sie in seiner Abwesenheit keine Männer empfangen dürfe. Sie wusste, dass Onkel Farid ihren Mann nicht mochte. Sie waren wie Wasser und Feuer.
»Aber Nura, ich bin dein Onkel«, schnurrte Farid, »mich kannst du doch einlassen!«
»Das gilt für alle Männer«, sagte sie streng und schloss die Tür.Er besuchte sie nie wieder, und Nura vermisste ihn auch nach seinem Tod nicht.
»Im Gefängnis und in der Ehe ist die Zeit der allerschlimmste Feind«, sagte ihr der Zwiebelverkäufer, der seinen Karren durch die Gassen schob und mit melancholischer Stimme seine billigen Zwiebeln anpries. Er hatte drei Jahre im Gefängnis gesessen und war zum zweiten Mal unglücklich verheiratet. Nura zahlte die Zwiebeln, lächelte den unglücklichen Verkäufer an und schloss die Haustür hinter sich. Sie war den Tränen nahe. Ihre Versuche, die Zeit leichtfüßig zu machen, waren an diesem wie an so vielen Tagen zuvor vergebens gewesen. Das lange Telefonieren mit Freundinnen hinterließ ihr einen schalen Geschmack im Mund.
Die Zeit wurde immer mehr zu einer klebrigen zähen Masse, vor allem an den drei Beischlaftagen Dienstag, Freitag und Sonntag, an denen sie sich am liebsten nach dem Abendessen versteckt hätte.
Die anfängliche Faszination für ihren Mann war nun vollständig verflogen, und sie hatte begonnen, ihn mit offenen Augen zu sehen. Er war langweilig und eingebildet, doch all das hatte noch eine Ecke in ihrem Herzen für ihn gelassen, frei von Groll und Verachtung – bis zu jener Nacht, als er sie zum ersten Mal schlug. Sie waren gerade ein halbes Jahr verheiratet. Und seit dieser grausamen Nacht
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