Das Geheimnis Des Kalligraphen
anfassen. Auch durfte den beiden niemand zuschauen. Salman beobachtete heimlich, wie Hamid in der kleinen Küche hinter dem Atelier arbeitete. Die rechteckigen hauchdünnen Goldfolien, aus Gold durch Walzen und Schlagen hergestellt, lagen zwischen Pergamentblättern in einem dicken Heft mit ledernem Umschlag.
Hamid nahm eine Porzellanschale, gab Gelatine, Honig und gelöstes und gesiebtes Harz hinein, legte dann das Blattgold in die Lösung und zerrieb es mit dem Zeigefinger, bis es sich auflöste. Dann zerrieb er eine zweite, dritte und vierte Folie Blattgold. Anschließend wärmte er das Ganze und ließ es ruhen, dann dekantierte er die Flüssigkeit und ließ das wenige Restgold, das sich nicht gelöst hatte, mehrere Tage in der Schale, bis es wieder trocken war. Der goldenen Flüssigkeit fügte er etwas Wasser zu und rührte so lange, bis sie einheitlich wurde, dann kratzte er das Restgold aus der Schale, gab es in eine Flasche und goss die Goldtinte darüber.
Hamid trug die Goldfarbe stets dick auf, ließ sie trocknen und rieb dann die Fläche mit einem glatten Edelstein, bis das Gold der Buchstaben glänzte.
Auch über die Messer des Kalligraphen machte sich Salman Notizen. Meister Hamids scharfes Messer kam aus Solingen. Samads Messer, auf das er mächtig stolz war, war in einer berühmten Stahlwerkstatt in der iranischen Stadt Singan hergestellt worden. Er hatte es einem Iraner abgekauft, der auf der Durchreise war.
Salman besorgte sich ein scharfes Messer von einem schweigsamenarmenischen Schuster in der Nähe seiner Gasse. Er malte für ihn eine schöne Preisliste, damit sich der Schuster nicht mit der arabischen Sprache abmühen musste, die er kaum verstehen konnte. Als Lohn bekam er das scharfe Messer.
Salman lernte die komplizierte Kunst, aus einem Schilf- oder Bambusrohr eine scharfkantige Schreibfeder herzustellen. Am schwierigsten war für viele Lehrlinge der letzte Schnitt, der Kantenlänge und Neigung der Feder bestimmte. »Nicht sägen, sondern schneiden«, rief Samad entsetzt, als Helfer Said sein Rohr schnitt. Samad legte das Rohr auf ein Holzbrett und schlug einmal mit Saids Messer darauf, schon war das Rohr geschnitten. Er schliff die Kante und spaltete sie, damit sie Tinte aufnehmen konnte. Die Spitze der Feder verlief schräg und hatte eine Neigung von etwa fünfunddreißig Grad.
Dem Helfer blieb verblüfft der Mund offen.
»Jetzt kannst du Tulut schreiben. Wenn du zögerst, bekommt deine Feder keine scharfe Zunge, mit der sie dem Papier schmeichelt, sondern Zähne, und mit denen kannst du nicht einmal deiner Schwiegermutter schreiben«, sagte Samad und kehrte zu seinem Tisch zurück.
Am nächsten Freitag übte Salman in seiner Kammer bei Karam den Schnitt. Er merkte, dass ihm nicht nur die Erfahrung fehlte, sondern auch der Mut, die Feder mit einem einzigen Schlag zu schneiden.
Man dürfe das Papier mit der Rohrfeder nicht quälen, sondern die Feder wie eine zerbrechliche sensible Fee über das Papier führen. Samad hatte ihm auch die Funktion eines jeden Fingers der rechten Hand gezeigt. »Die Feder«, sagte er, »liegt so, dass der Zeigefinger sie von oben nach unten bewegt, der Mittelfinger schiebt sie von rechts nach links und der Daumen führt sie in die Gegenrichtung.« Und Samad hatte zufrieden gelächelt, als er Salman beobachtete, der mit Eifer auf jedem verfügbaren Zettel übte.
Später sollte Salman sagen, dass der entscheidende Augenblick in seinem Leben, der ihn zum Kalligraphen machte, ein bestimmter Abend im Januar des Jahres 1956 gewesen war. Er musste Überstunden machen, um seinem Meister zu helfen, auch alle anderen Mitarbeiter legten eine Nachtschicht ein. Der Auftrag war für die saudische Botschaft.Die Saudis zahlten das Zehnfache, forderten aber auch beste Qualität. Sie wollten möglichst schnell ein großes Gemälde aus Sprüchen, das sie ihrem König bei seinem Besuch in Damaskus als Geschenk überreichen wollten.
In jener Nacht war Salman wie verzaubert von der Eleganz, mit der Meister Hamid die große Fläche aufteilte und die Buchstaben aus dem Nichts hervorzauberte. Und bis der Morgen graute, stand das Gemälde vor ihm wie eine göttliche Schöpfung. Salman flüsterte auf dem Nachhauseweg immer wieder vor sich hin: »Ich will Kalligraph werden, und ich werde es schaffen.«
Salman lernte – zusätzlich zu seinen Übungen – aus einem kleinen Buch, das im Atelier allen Mitarbeitern zur Verfügung stand. Darin stand, dass die arabischen
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