Das Geheimnis Des Kalligraphen
Badris Geschichten. Er blieb in seinem Zimmer.
Er hörte das Telefon klingeln und Karam laut lachen.
Wenig später brachte ihm Karam einen Tee und deutete höflich an, dass sie ein wichtiges Gespräch in der Küche hätten und es besser sei, wenn er nicht störe.
»Das habe ich bei Gott nicht vor«, sagte Salman, »ich muss bis Montag dem Meister drei schwere Übungen in Tulut-Schrift zeigen, die mir einfach nicht gelingen wollen.«
Karam lächelte und ging.
Als Salman eine Stunde später zur Toilette ging, hörte er einen Streit in der Küche. Badri und der Fremde, dessen Gesicht Salman nicht sehen konnte, sagten deutlich, man müsse die »Teufelsbrut« wie eine Ziege schlachten. Karam dagegen warf ein: »Wenn du einem Feind das Böseste antun willst, so töte ihn nicht, sondern quäle ihn und wünsche ihm ein langes Leben.«
Salmans Herz raste, er fühlte seine Beine zittern. Blitzschnell und geräuschlos schlich er in den Garten. Dort konnte er auf der Toilette vor Angst nicht einmal die Hose herunterlassen. Sein Urin schien sich durch den Schock verflüchtigt zu haben.
Wen wollten die zwei umbringen? Und warum beteiligte sich Karam daran?
Erst Jahre später sollte sich alles wie ein Puzzle zusammenfügen und ein Bild ergeben. An jenem Abend konnte er seine Hand nicht mehr ruhig halten, um die anspruchsvolle Kalligraphie auszuführen.
Im Laufe der ersten Monate lernte Salman die Geheimnisse der Tintenherstellung. Er durfte freilich nur als Handlanger dabei sein, aber er beobachtete alles, behielt die Mengen im Gedächtnis und schrieb sie heimlich auf Zettel, die er freitags bei Karam sauber in seine Hefte übertrug.
Das Atelier brauchte Unmengen farbiger Tinte für die Aufträgeeines Architekten, der eine neue Moschee entworfen hatte. Samad beaufsichtigte die Herstellung, Radi führte aus. Und Salman musste sackweise Gummiarabikum vom Gewürzmarkt herbeischleppen.
Samad ließ es in Wasser auflösen und fügte eine genau abgewogene Menge Schwefelarsenik und ein Pulver aus einer nicht beschrifteten Tüte hinzu. Als Salman danach fragte, murmelte Samad irgendetwas von Natrium. Radi mischte und kochte an diesem Tag große Mengen leuchtend gelber Farbe. Für kleine und kleinste Kalligraphien nahm Meister Hamid teure Safranextrakte, aber nur er durfte die edle Farbe gebrauchen. Aus Arsensulfid stellte Samad die Farbe Orange her, Bleiweiß nahm er für Weiß. Für Blau benutzte er Lapislazuli-Staub. Verschiedene Rotnuancen wurden aus Zinnoberpulver oder Bleioxid hergestellt, für andere nahm man Seifenkraut, Alaun und Wasser; um das Rot zu intensivieren, gab man diesem Extrakt pulverisierte Koschenille bei, ein rotes Pulver, das aus den gleichnamigen Läusen gewonnen wurde.
Samad mahnte ihn zur Vorsicht mit den Farben, denn anders als die harmlose schwarze Tinte waren die meisten Farbpigmente hochgiftig. Als der Geselle Radi das hörte, machte er sich lustig über Samads Angst. Er mischte alles mit den Händen und aß danach, ohne sich gewaschen zu haben. Ein Jahr später überfielen ihn plötzlich Magenkrämpfe, und da er sehr arm war, konnte er keinen guten Arzt aufsuchen. Er begnügte sich mit Kräutern und anderen Hausmitteln. Dann wurde er fahl und grau, wie wenn er auf dem Bau arbeitete. Im Winter begann er sich regelmäßig zu erbrechen, und kurz nachdem Salman Ende Februar 1957 das Atelier verließ, wurde Radi so schwer krank, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Seine Hände waren gelähmt, und wenn er sprach, bot sein Mund ein grausames Bild. Sein Zahnfleisch hatte einen schwarzen Saum. Hamid zahlte ihm eine kleine Abfindung und entließ ihn.
Aber nicht nur der Giftigkeit wegen mochte auch Hamid die Arbeit mit Farbe nicht. Einem Kunden sagte er: »Schwarz-Weiß ist Musik, der Blick schwingt zwischen diesen zwei Polen. Ein Rhythmus entsteht, eine Augenmusik, deren Komponenten Emotion und Präzision sind. Farbe ist verspielt, sie erzeugt leicht Freude am Chaos.« Salmanschrieb die Bemerkung auf den Rand einer alten Zeitung, riss den schmalen Streifen ab und steckte ihn in die Hosentasche, bevor er den Tee servierte.
Nur Gold auf grünem oder blauem Hintergrund mochte der Meister. Er nannte es: meine goldene Ekstase.
Eine Zeit lang wunderte sich Salman darüber, dass ihn der Meister immer wieder zum Gewürzmarkt schickte, um Honig zu kaufen, obwohl er nie Honig aß.
Die Antwort fand er Ende August: Goldfarbe. Die war Chefsache, und nur Samad, Hamids rechte Hand, durfte Goldfarbe herstellen oder
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