Das Geheimnis Des Kalligraphen
aber nur um Nachbarinnen zu besuchen oder um Einkäufe zu machen, zu denen ihr Mann nicht kam.
Sie habe es noch viel besser als andere Frauen, sagte die Nachbarin Widad zu ihr. Nura wusste, dass Widad, aber auch Sultana und andereFreundinnen das Haus nie ohne männliche Begleitung verlassen durften. Ihre Grenze war die Haustür. Selbst den Blick aus dem Fenster musste Sultana verstohlen werfen, damit niemand sie sah. Auch durften Widad und Sultana niemanden anrufen, aber immerhin durften sie das Telefon abnehmen, und deshalb rief Nura sie mindestens einmal am Tag an.
Schon als junges Mädchen hatte Sultana davon geträumt, als Mann verkleidet ins Café Brazil zu gehen, unter den Männern zu sitzen und dann ihr Hemd auszuziehen. Sie hatte auch die verrückte Idee, ihren Mann anzuketten, so dass er sich ein halbes Jahr lang nur vom Schlafzimmer zum Bad, zur Toilette, zur Küche und zurück bewegen könnte, um ihn dann zu fragen: »Wie findest du meine Welt?«
Nura fiel auf, wie mutig Sultanas Zunge war, wenn sie mit ihrer Familie abrechnete. Sie ließ kein gutes Haar an ihrem Vater und keines an ihrem Mann, dessen schneeweißer, mit Fleischlappen gepolsterter Körper merkwürdige Gerüche ausströmte. »Aus jedem Lappen ein anderer Gestank«, sagte sie. Nura hatte nicht den Mut, die Qualen, unter denen sie litt, zu beschreiben.
Die Stunden, Tage und Monate wiederholten sich und erstickten jede Überraschung im Keim. Nura fühlte sich wie der Esel der Olivenpresse im Midan-Viertel, wo sie als Mädchen gelebt hatte, der mit verbundenen Augen den Mühlstein zog und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang seine Runden drehte. »Seine Augen werden verbunden, damit er sich einbildet, er trabe vor sich hin zu einem Ziel, und es wird dem Esel jeden Tag schlecht, wenn ihm die schmutzige Binde abgenommen wird und er sich am selben Fleck sieht«, erzählte Dalia damals. Nura kannte die Mühle.
»Ich bin aber keine Eselin. Gott schuf mich nicht zu einer schönen Frau, damit ich mit verbundenen Augen den ganzen Tag auf der Stelle trete«, sagte sie trotzig. Dalia zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Mädchen, Mädchen«, flüsterte sie und ihr besorgter Blick folgte Nura, als diese ihr Haus verließ.
Nuras Schulkameradin Nariman empfahl ihr, zu einer bekannten Hellseherin zu gehen, die nur wenig verlangte und viel gab. Sie wolltesie beim ersten Mal begleiten, weil Nura Angst hatte, in einer unbekannten Gegend der Stadt durch die Straßen zu gehen.
»Sie ist die einzige Seherin der Stadt«, flüsterte Nariman auf dem Weg zum Muhajirin-Viertel. Sie mussten mit zwei verschiedenen Bussen fahren und noch eine Weile zu Fuß gehen. Bei ihr, sagte Nariman, habe die Seherin sofort erkannt, dass ihr Mann durch den bösen Zauber einer anderen Frau gefesselt war. Sie habe ihr das richtige Mittel gegeben und die richtigen Zaubersprüche beigebracht und siehe da, derselbe Mann, der sie mit gleichgültigen Augen angeschaut hatte, als wäre sie ein altes Stück Holz, kam von der Arbeit und hatte nichts anderes im Sinn, als sich ihr in Liebe hinzugeben«, sagte Nariman etwas lauter und machte eine bedeutungsvolle Pause. »Bald stellte sich heraus, wer ihn die ganze Zeit ausgelaugt und mir entfremdet hatte. Es war eine ferne Cousine von ihm, die sich, früh verwitwet, Hoffnungen machte, er würde mich verlassen und zu ihr kommen. Die Seherin hat diese Cousine genau beschrieben und vorausgesagt, dass der Dschini, der meinen Mann bewohnte und sein Ding verknotet hatte, aus ihm herausgehen, die Täterin am Ohr fassen und zu mir führen würde. Und in der Tat kam die Frau mit rotem Ohr bei mir an und fragte ganz frech nach ihrem Cousin, der sie seit einer Weile nicht mehr besuche. Ich ließ sie nicht ins Haus. Sollte sie doch auf der Straße warten und dort ihr Theater mit ihm veranstalten«, lachte sie kurz.
»Und, hat sie gewartet?«
»Ja, bis er von der Arbeit kam. Da versperrte sie ihm den Weg und wollte eine Begründung für sein Wegbleiben hören. Mein Mann aber schob sie zur Seite und sagte, sie solle zum Teufel gehen, er sei nun geheilt und wolle zu seiner Frau. Und sie schrie die ganze Gasse zusammen, bis sie müde wurde und sich verzog.«
Als Dank für diese Heilung habe Nariman der Hellseherin das versprochene Lamm gebracht.
»Kann sie meinen Mann dazu bringen, weniger mit mir zu schlafen und dafür mehr mit mir zu reden?«, fragte Nura und kam sich lächerlich vor. Nariman schaute sie erstaunt an.
»Wie? Du willst weniger? Bist
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