Das Geheimnis Des Kalligraphen
schmerzte Nura, also beschloss sie, Safije nicht mehr aufzusuchen. Alles war so einfach. Warum weigerte sich Hamid auch nur einen Schritt auf diesem Weg zu gehen. Nicht einmal Salz wollte er holen, wenn es nicht auf dem Tisch stand. »Salz«, sagte er, und als Nura absichtlich nicht reagierte, in der Hoffnung, er würde aufstehen, packte er sie am Arm und knurrte: »Bist du schwerhörig? Ich sagte Salz.«
Nura wusste nun, dass sie am Ende einer Sackgasse stand. Eine verzweifelte Lage, aber ihr Wissen darum betrachtete sie als Fortschritt.
Als sie in dieser Zeit verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrer Sackgasse suchte, tauchte Salman auf. Ausgerechnet Salman, der bettelarme Mann mit dem bartlosen Kindergesicht und den Segelohren! Sie hatte ihn zuerst für fünfzehn gehalten, war sehr verblüfft, als er, rot über beide Ohren, erwiderte, er sei bereits zwanzig. Man musste an sich halten, um bei seinem Anblick nicht zu lachen.
Warum sie sich ausgerechnet in ihn verliebte? Sie fand keine Antwort. Sie tröstete sich damit, dass die Liebe wie der Tod eigenwillig ist. Sie kommt unerwartet und lässt sich nicht erklären. Und sie sucht sich manchmal Menschen aus, an die man nie gedacht hat, so wie der Tod, der bisweilen völlig gesunde Menschen ins Jenseits befördert, während Schwerkranke ihn täglich um Beeilung bitten.
Nura fühlte an jenem Tag ein ungeheures Bedürfnis, all das aufzuschreiben, was wie Wellen durch ihren Kopf schlug und von dem sie keinem Menschen erzählen durfte. »Liebe ist ein wildes und daher unhöfliches Kind, sie geht direkt ins Herz ohne anzuklopfen.«
Das Besondere an ihrer Liebe zu Salman war, dass sie nicht beim ersten Blick da war, wie man in Damaskus zu sagen pflegt. Anfang Oktober, als er zum ersten Mal vor der Tür stand, bekam er kaum einen Gruß heraus.
Sie übergab ihm täglich die Matbakia und nahm ihm den schweren Korb mit den Einkäufen ab, die Hamid besorgt hatte.
Mehr als zweihundert Mal wiederholte sich diese Szene in den siebenMonaten zwischen Oktober 1955 und April 1956. Mal wechselte sie aus Höflichkeit oder Mitleid ein Wort mit ihm, mal nicht. Mal gab sie ihm einen Apfel, mal nicht. Er war schüchtern und nicht gerade gesprächig. Und immer wenn sie die Tür schloss, war er aus ihrem Kopf verschwunden.
Aber eines Tages schloss sie die Tür und konnte ihn nicht mehr vergessen und es tat ihr leid, dass sie ihm gegenüber so kalt und überheblich gewesen war.
Das war an einem warmen Tag Mitte April. Die ganze Nacht dachte sie an Salman. Jahre später sollte sie erzählen, dass ihre Gedanken an Salman damals zu einem Meißel wurden, der von der Mauer am Ende der dunklen Sackgasse Brocken für Brocken herausschlug, und kurz bevor sie in der Morgendämmerung einschlief, sah sie, wie sich vor ihren Augen eine lichtdurchflutete Landschaft atemberaubend schön entfaltete.
Nura fragte sich am nächsten Morgen mehrmals: »Habe ich mich tatsächlich in ihn verliebt?«
Drei Mal schaute sie auf die Uhr, und als sie den Türklopfer hörte, wäre sie vor Freude fast gestorben. Sie zwang sich zur Ruhe, aber als sie ihn erblickte, wusste sie, dass es um sie geschehen war. Er sprach kein Wort, blickte sie ängstlich an und wartete auf einen Befehl. Als sie Salman in die Augen sah, fühlte sie sich wie am Meer, sie fühlte, wie Wellen durch sie hindurchgingen und sie ein Teil dieser Wellen wurde.
Sie zog ihn rasch an der Hand ins Hausinnere und schlug die Tür hinter ihm zu. »Willst du?«, fragte sie atemlos. »Willst du einen Kaffee, ein Bonbon oder eine Praline?« Ihr Herz tanzte betrunken in ihrem Brustkorb.
Er antwortete nicht, sondern lächelte nur. Am liebsten hätte er gesagt, ich habe Hunger, hast du ein Brot und ein paar gekochte Eier oder ein Stück Käse, verkniff es sich aber.
»Oder willst du lieber etwas essen?«, fragte sie in dem Moment, als hätte sie ihm seinen Hunger von den Augen abgelesen.
Er nickte und schämte sich, dass sie ihn ertappt hatte. Sie atmete erleichtert auf und lief in die Küche und füllte einen großen Teller mitLeckereien, mit Käse, Pasturmaschinken, Oliven, eingelegtem Paprika und Gurken.
Er stand immer noch verlegen im Korridor, angelehnt an die Wand gegenüber der Küche. Sie reichte ihm den Teller und zwei kleine Fladenbrote.
Salman hockte sich auf den Boden und stellte den Teller behutsam vor sich. Sie beobachtete ihn und fühlte sich so glücklich wie noch nie. Er aß und lächelte.
An jenem Tag erfuhr sie zum ersten Mal in
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