Das Geheimnis Des Kalligraphen
ihrem Leben, dass sich ihre Hand ohne ihren Willen bewegen konnte. Noch während sie Salman von der Küchentür aus beobachtete, machte sich ihre rechte Hand auf den Weg in seine Richtung. Nura musste ihr folgen, und die Hand legte sich auf Salmans Stirn, als wollte sie sein Fieber fühlen. Er hörte auf zu essen und weinte gleichzeitig.
»Auf einmal verstehe ich«, sagte er und schwieg, als würde er gegen seine Tränen ankämpfen, »wie sich mein Hund gefühlt hat, als er zum ersten Mal bei mir seinen Hunger stillen konnte.« Er erzählte ihr von der ersten nächtlichen Begegnung mit dem kleinen verlassenen Welpen, der dann sein Hund Flieger wurde.
Sie küsste ihn auf die Lippen, die salzig schmeckten. Er küsste sie ebenfalls und atmete den Zitronenblütenduft ihrer Wangen.
Und als er ihr Gesicht in seine Hände nahm und sie auf die Augen küsste, fühlte sie, wie eine Flamme in ihr aufloderte. Sie drückte Salman an sich. Plötzlich fiel ihr ein, dass er sich beeilen musste. Sie küsste ihn ein letztes Mal und stand auf.
»Die sieben Schlösser sind aufgebrochen und gerade auf meine Füße gefallen«, sagte sie. Er verstand nicht, was sie damit meinte. Schnell nahm er die Matbakia und rannte los.
Erst da entdeckte sie, dass er kaum etwas gegessen hatte.
Nura fühlte sich erschöpft, als hätte sie Berge und Täler überquert. Sie wunderte sich, dass sie die höchsten Genüsse allein durch Salmans Berührungen und Küsse empfunden hatte.
Am Nachmittag fühlte sie sich schuldig. War sie vielleicht eine undankbare Verräterin, die im Reichtum lebte und den betrog, der ihr das ermöglichte? Sie nahm sich vor, Salman am nächsten Tag kühl zu begegnen, ihm die Matbakia zu geben und die Tür zu schließen wie immer zuvor. Hundert Mal versicherte sie sich am nächsten Morgen, dass es das Beste für alle wäre. Sie wollte sich – wie in einem der ägyptischen Filme – für die traumhaften Minuten bedanken und ihm dann einen Vortrag über Treue und Pflicht halten. Aber als sie mitten in der Vorbereitung zu dieser Rede auf die Uhr schaute, war es kurz nach elf, und sie fühlte eine solche Sehnsucht nach Salman wie ein Ertrinkender nach Luft. Und noch bevor er den Klopfer zum zweiten Mal fallen ließ, zerrte sie ihn ins Haus und an ihr Herz.
Von diesem Tag an verflüchtigte sich die Zeit, als wäre sie reiner Äther.
21.
M eister Hamid war selten aus der Ruhe zu bringen. Im Vergleich zu ihm, sagte Samad, sei Buddha ein bedauernswerter Choleriker. Nur wenn seine Schwester kam, eine hübsche große Frau, wurde er nervös. Er mochte sie nicht, denn sie war vulgär und ziemlich aufreizend angezogen, was ihm peinlich war. Wenn sie da war, konnte der Meister nicht mehr ruhig sitzen und warf immer wieder besorgt einen Blick zur Tür, als fürchtete er, dass einer seiner vornehmen Kunden hereinkommen und fragen könnte, wer diese verwegen aussehende Frau sei.
Auch die Mitarbeiter wurden eigenartig unruhig. Obwohl die Frau die Schwester ihres Brotgebers war, beäugten sie gierig und ungeniert den Hintern der Frau.
Meister Hamid gab seiner Schwester Siham das Geld, um das sie ihn anbettelte, nur damit sie so schnell wie möglich sein Atelier verließ. Er schimpfte danach lange auf seinen unfähigen Schwager, der angeblich ein miserabler Fotograf war.
Auch der gelegentliche Besuch seiner jung gebliebenen Schwiegermutter brachte seinen Tagesablauf durcheinander. Er wurde freundlichschüchtern und schmolz vor Verlegenheit dahin. Da er mit ihr jedes Mal das Atelier verließ, behauptete Samad, sie gingen in ein nahes Hotel. Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Hamid lud seine Schwiegermutter in ein Familiencafé nicht weit vom Atelier ein und kehrte nach einer Stunde ziemlich fröhlich zurück.
Doch als die Schwiegermutter im Laufe des Jahres immer öfter kam, ging sie dem Meister schwer auf die Nerven. Das spürten natürlich auch seine Mitarbeiter und Samad sagte kopfschüttelnd: »Dieses Weib zerstört noch sein Leben.«
Aber plötzlich ließ sie sich nicht mehr blicken.
Im Frühjahr hatte Meister Hamid viele Termine im Kultusministerium, und immer wenn er nicht in der Werkstatt war, entspannten sich die Mitarbeiter etwas. Seit Monaten hatten sie so viele Aufträge wie noch nie und Meister Hamid forderte bedingungslosen Einsatz.
Eines sonnigen Tages, Anfang Mai, war Hamid wieder im Ministerium, und da es im Atelier nicht viel zu tun gab, erlaubte Samad allen Mitarbeitern, eine Stunde Pause zu machen.
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