Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
entführen?, fragte sich Antonia zweifelnd. Nein, er liebt mich, und ich liebe ihn. Und ich muss Mutter verlassen. Sie wird mich sonst weiter wie ein Kind behandeln, dachte sie entschieden, zog sich aus und legte sich zum Schlafen nieder.
Doch sosehr sie sich auch bemühte, ihre aufgewühlten Gedanken zu beruhigen, in ihrem Kopf tobte alles wild durcheinander. In einem Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, James um etwas Geduld zu bitten und den Antrag in ein paar Wochen in Oamaru zu wiederholen. Dann verwarf sie das wieder, weil sie fürchtete, er würde ihr nicht nachreisen, oder ihre Mutter würde ihn selbst, wenn er das wagte, mit derselben Vehemenz ablehnen.
Der Morgen graute, und Antonia hatte immer noch kein Auge zugetan. Sie fühlte sich matt und elend. Immerhin hatte sie eine Entscheidung getroffen: Sie würde heute Abend mit James Henson fliehen, um seine Frau zu werden. Die anders lautenden inneren Stimmen hatte sie allesamt zum Schweigen gebracht.
Antonia traute sich an diesem Morgen gar nicht erst zum gemeinsamen Frühstück, denn ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass man ihr die inneren Qualen und die durchweinte Nacht am Gesicht ablesen konnte. Das bestätigte sich, als Harata ihr das Frühstück ins Zimmer brachte.
»Kind, wie siehst du denn aus? Bleib nur im Bett. Wie gut, dass der Arzt nachher kommt. Dann soll er dich gleich mit ansehen!«, rief die Maori besorgt aus.
»Nein, schon gut, ich habe nur schlecht geschlafen«, seufzte Antonia. »Aber wieso kommt ein Arzt ins Haus?«, fügte sie neugierig hinzu.
»Ach, das hat Mister Koch gegen den Willen deiner Mutter veranlasst. Was meinst du, wie sie deshalb tobt.«
»Warum holt er gegen Mutters Willen einen Arzt ins Haus?«
Harata zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Es war schon spät gestern. Die beiden haben entsetzlich gestritten. Es war so laut, dass ich selbst auf dem Flur alles verstehen konnte. Er hat geschrien, dass er nicht zusieht, wie sie sich umbringt. Dann hat deine Mutter fürchterlich gehustet und ihm an den Kopf geworfen, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und nicht wie ein liebeswunder Kater um sie herumschleichen. Sie würde ihn trotzdem nicht heiraten.«
»Das hat sie gesagt?«
»Nicht gesagt, gebrüllt hat sie das. Gut, bei ihr kenne ich das, aber dass Mister Koch so laut sein kann, hätte ich ihm niemals zugetraut. Er brüllte noch: ›Morgen kommt ein Arzt! Das ist das Letzte, was ich für dich tue. Du kannst ihn ja eigenhändig hinauswerfen!‹ Dann hat er türenschlagend das Haus verlassen. Tja, und nun verlangt deine Mutter, dass ich den Doktor unverrichteter Dinge fortschicke, aber das werde ich nicht tun. Ich finde, ihr Husten hört sich tatsächlich nicht gut an, und unter uns, der arme Mister Koch hat es wirklich nicht verdient, so von ihr behandelt zu werden.«
Antonia schwieg nachdenklich. Sie konnte nur hoffen, dass ihrer Mutter nichts Ernsthaftes fehlte, denn sie kannte sich. Niemals würde sie es übers Herz bringen, ihre kranke Mutter zu verlassen. Sie ist stark wie ein Eisenholzbaum an Weihnachten, redete sich Antonia gut zu, ihr fehlt nichts.
Vom Frühstück rührte sie nichts an. Sie brachte keinen Bissen hinunter. Als Harata das Zimmer verlassen hatte, begann sie, die Kleider auszusuchen, die sie mitnehmen wollte, doch ihr fehlte der rechte Antrieb. Plötzlich musste sie an das rote Ballkleid ihrer Mutter denken. Wie eine Wahnsinnige war sie noch an jenem Abend des Festes in der Henson-Villa in ihr Zimmer gestürzt, hatte sich das Kleid gegriffen und war damit verschwunden. Harata hatte es wenig später zerfetzt im Müll gefunden.
Antonia stöhnte auf, während sie an den Abend dachte, an dem James Henson sie nach Hause gebracht hatte. Sie hatte ihre Mutter noch niemals dermaßen außer sich erlebt. Wovor hat Mutter Angst? Dass ich in die Hände eines skrupellosen Verführers gerate?, fragte sich Antonia zum wiederholten Mal. Aber er hat doch um meine Hand angehalten. Glaubwürdiger konnte er seine guten Absichten gar nicht beweisen. Ich verstehe sie nicht. Und dass sie mich jetzt wie eine Gefangene bewachen lässt!
Seufzend ließ Antonia sich auf ihr Bett fallen. Ihr war die Lust vergangen, Kleider auszuwählen. Plötzlich stand ihr Entschluss fest. Bevor ich sie verlasse, werde ich sie fragen, was sie wirklich umtreibt. Ich nehme ihr einfach nicht ab, dass sie James nicht für integer hält. Jede andere Mutter würde sich freuen, wenn einer der begehrtesten
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