Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
hatte sie herausgeschrien, bis ihre Stimme von einem bellenden Husten erstickt wurde. Selma wand sich regelrecht in Krämpfen. Es klang grausam. Antonia eilte hinzu und stützte ihre Mutter, doch dann stieß sie einen entsetzten Schrei aus. Das eben noch weiße Papier des Vertrages war mit kleinen Blutflecken übersät.
Selma ließ sich kraftlos in Antonias Arme sinken. Die hakte ihre Mutter unter und schaffte es auf diese Weise, sie zu ihrem Bett zu bringen. Dann lief Antonia zur Tür und rief nach Harata. Die kam sofort herbeigerannt.
»Mutter hat Blut gespuckt!«, rief Antonia wie von Sinnen und deutete auf den Schreibtisch. Harata starrte fassungslos auf die winzigen hellroten Flecken.
In diesem Augenblick ging die Türglocke. Die Maori riss sich von dem erschreckenden Anblick los und eilte nach unten zur Haustür. Wenig später kam sie in Begleitung des Arztes zurück. Antonia saß am Bett ihrer Mutter und hielt ihr den Kopf. Selma wurde schon wieder von einer schweren Hustenattacke gequält.
Der Arzt setzte eine besorgte Miene auf, als er an ihr Bett trat. Bevor er sie untersuchte, schickte er Antonia und Harata energisch aus dem Zimmer.
Die beiden Frauen ließen sich auf das Sofa in der Diele fallen. Antonia kuschelte sich in Haratas Arm. Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Die Maori strich ihr tröstend über die blonden Locken. »Es wird gut, es wird alles gut«, murmelte sie und begann, Antonia mit leiser Stimme das Märchen vom Kiwi zu erzählen.
»Eines Tages ging Tanemahuta, der Gott des Waldes, durch sein Reich. Er schaute hinauf zu seinen Bäumen und bemerkte, dass sie von Käfern zerfressen wurden. Er wollte, dass einer der Vögel, über die sein Bruder Tanehokahokas herrschte, aus den Baumkronen hinunterstieg und fortan auf dem Boden lebte, um die Bäume zu schützen. Erst wandte er sich an den Flötenvogel und bat ihn, von seinem Blätterdach hinabzusteigen. Tui, der Flötenvogel, sah hinunter zum Waldboden, sah die kalte, dunkle Erde und schüttelte sich. ›Es ist mir zu düster‹, sagte er. Dann wandte sich der Waldgott an das Sumpfhuhn, doch Pukeko sah hinunter zum Waldboden, sah die kalte, dunkle Erde und schüttelte sich. ›Es ist mir zu feucht‹, sagte er. Schließlich wandte er sich an den Kuckuck, doch Pipiwharauroa schaute sich um und sah seine Familie an. ›Ich bin im Moment damit beschäftigt, mein Nest zu bauen‹, sagte er. Auch Tanehokahokas war traurig, weil er wusste, dass nicht nur sein Bruder seine Bäume verlieren würde, wenn keines seiner Kinder aus den Baumkronen herunterkommen wollte; auch die Vögel hätten dann keine Heimat mehr. Schließlich wandte er sich an den Kiwi ...«
»Und der Kiwi hat die Bäume und die Vögel gerettet«, vollendete Antonia diese Geschichte, die sie bereits als Kind geliebt hatte. Und auch schon früher hatte Harata Antonia mit ihren Geschichten trösten können.
In diesem Augenblick trat der Arzt hinaus auf die Diele. Leise schloss er die Tür zum Schlafzimmer hinter sich. Sein besorgter Gesichtsausdruck sagte alles.
»Sie schläft jetzt.«
»Was ist mit ihr?«, fragte Antonia mit bebender Stimme.
Der Arzt räusperte sich ein paarmal. »Sie leidet unter Tuberkulose.«
»Nein!«, entfuhr es Antonia entsetzt.
»Das heißt nicht, dass Ihre Mutter gleich daran sterben muss. Sie darf sich nur nicht anstrengen, muss viel liegen, und am besten wäre ein Haus direkt am Meer.«
»Wenn es ihre Gesundheit erlaubt, werden wir nach Oamaru ziehen«, entgegnete Harata leise, bevor sie in Wehklagen ausbrach. »Die arme Missy! Die arme Missy!«
»Das Meer wird ihr guttun, aber nun lassen Sie sie schlafen, und die nächsten Tage strenge Bettruhe und keinerlei Aufregung. Alles, was sie schwächt, kann ihren Zustand dramatisch verschlechtern. Bis hin zum Tod!« Mit diesen Worten verabschiedete sich der Arzt aus Waikouaiti von Antonia und Harata.
Die beiden Frauen blieben fassungslos zurück. Eine ganze Weile saßen sie schweigend auf dem Sofa, bis Antonia mit tränenerstickter Stimme fragte: »Du kommst aber mit nach Oamaru, nicht wahr?«
Harata nickte.
Der Kampf, den Antonia soeben in ihrem Inneren ausgefochten hatte, war kurz gewesen. Sie hatte keine andere Wahl.
»Und was ist mit Peter?«
»Er begleitet uns ebenfalls, denn ohne ihn würde ich nicht mitgehen. Außerdem können wir gut einen Mann im Haus gebrauchen.«
»Tust du mir einen Gefallen?«, fragte Antonia die Maori nach einer Weile des Schweigens mit leiser Stimme. Und ohne
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