Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
etwas. Entweder du sagst mir auf der Stelle und ohne Umschweife, was für ein widerliches Spiel du mit mir treibst, oder ich reise sofort ab.«
»Du kannst doch gar nicht mehr zurück. Du bist längst reif. So reif wie eine Frucht, die gleich vom Baum zu fallen droht. Du gierst förmlich danach zu erfahren, wo deine Wurzeln und wer deine Eltern sind. Und ich schwöre dir, es gibt nur einen Weg, die Wahrheit zu erfahren: indem du dir meine Geschichte bis zum Ende anhörst.«
»Na und? Selbst wenn ich so reif wäre, wie du es behauptest, was geht es dich an? Dann werde ich Mittel und Wege finden, die Wahrheit herauszubekommen. Ich betone, die Wahrheit. Und keine Märchen und Geschichten, die du mir häppchenweise servierst. Ich habe kein Interesse mehr an deiner Lebensgeschichte. Hörst du? Antonia ist deine Großmutter und nicht meine. Ihr Schicksal ist mir gleichgültig ...«
Grace stockte, denn es stimmte nicht ganz, was sie sagte. Sie war geradezu versessen darauf, alles über Antonia zu erfahren, aber sie würde es vor Suzan nicht zugeben.
»Wenn ich an etwas Interesse habe, dann nur noch an meiner eigenen Geschichte!«, fügte sie trotzig hinzu.
Suzan brach in ein hysterisches Lachen aus. »Dann, meine Liebe, hör gut zu, denn alles, was ich dir erzähle und bereits erzählt habe, ist deine eigene Geschichte! Hast du das etwa immer noch nicht gemerkt? Es ist deine ganz genauso wie meine!«
Grace erstarrte.
Glenavy, Juli 1919
Antonia wusste nicht so recht, wie sie es geschafft hatte, die vergangene Woche zu überstehen. Sie konnte immer noch nicht an Charles Waynes Worte denken, ohne in Tränen auszubrechen. Wenn sie sich vorstellte, dass dieser widerliche Kerl ihr Vater und seine verwöhnte Tochter ihre Halbschwester war, drehte sich ihr jedes Mal der Magen um. Sie konnte nur von Glück sagen, dass Charles Wayne zu borniert war, um die richtigen Schlüsse aus allem zu ziehen. Er hielt sie für Will Parkers Tochter, und so sollte es auch bleiben.
Antonia marschierte gerade hinter Arthur Evans über ein Geröllfeld an der Mündung des Waitiki-Flusses. Ihren Wagen hatten sie an der Pferdestation in Glenavy stehen gelassen. In einem Haus auf der anderen Seite des Ortes wollten sie eine Frau besuchen, die angeblich ein intaktes Riesenei gefunden hatte. Davon jedenfalls hatte die Dame Arthur in einem Brief ganz aufgeregt berichtet. Er war skeptisch, ob dies auch der Wahrheit entsprach, aber allein die vage Aussicht, in den Besitz eines solchen Schatzes zu gelangen, war jede noch so beschwerliche Reise wert.
Antonias Gedanken schweiften zu James ab. Ihr wollte es schier das Herz brechen, dass er niemals erfahren würde, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie stolperte, doch der Professor, der sich in dem Augenblick zu ihr umwandte, konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen.
Ich sollte mich auf den Moa konzentrieren und nicht auf meine ungewollte Verwandtschaft mit der Familie Wayne, ermahnte sich Antonia. Doch schon war sie in Gedanken wieder bei dem Brief, den sie gestern von James erhalten hatte. Sie hatte ihn so oft gelesen, dass sie ihn inzwischen auswendig kannte.
Liebste, was für ein dummer Streit. Lass ihn uns begraben und uns am ersten Mittwoch im August im Haus treffen. Ich bin dann auf dem Weg nach Christchurch zu einem Wollhändler. Verzeih, dass es so lange gedauert hat, aber es ist inzwischen etwas geschehen, was mich in tiefe Verzweiflung gestürzt hat. Aber jetzt weiß ich, dass es trotz alledem nur einen Weg gibt: den Weg zu dir! In Liebe, James
Immer wenn sie sich seine Worte ins Gedächtnis rief, wurden ihre Augen feucht. Was sollte sie davon halten, dass er sich trotz Patricias gesundheitlichem Zustand mit ihr treffen wollte? Ist er entschlossen, seine kranke Frau zu verlassen? Oder will er mich davon überzeugen, dass ich trotz allem seine Geliebte bleibe, während er zuhause den fürsorglichen Ehemann spielt?, rätselte Antonia bitter.
»Wir sind da. Und passen Sie auf, sonst stolpern Sie noch einmal über ihre eigenen Füße.« Mit diesen strengen Worten holte Arthur sie unsanft aus ihren Gedanken.
»Entschuldigen Sie, aber ich, ich habe an etwas ganz anderes gedacht«, stammelte sie und fühlte sich, wie so oft, von Arthur durchschaut.
Er musterte sie prüfend. »Wissen Sie eigentlich, dass Sie leichenblass sind? Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch, alles in Ordnung«, log sie. Er aber hörte nicht auf, sie zu fixieren.
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