Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Antonia blickte verlegen zu Boden, aber da ging auch schon die Haustür auf, und eine aufgeregte alte Frau trat heraus.
»Sind Sie der Professor?«, fragte sie ehrfürchtig. »Kommen Sie rein.« Beinahe hätte sie Antonia die Tür vor der Nase zugeschlagen, aber als Arthur sie als seine Assistentin vorstellte, ließ sie auch sie eintreten. Das Innere des Hauses erinnerte mehr an eine Hütte. Antonia hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Es war nur ein einziger düsterer Raum, in dem die Alte lebte. Dagegen war selbst das Strandhaus am Bushy Beach ein Palast. Dort gab es immerhin zwei Wohnräume, eine Küche, und alles war hell und freundlich. Jedes Mal nach einem leidenschaftlichen Wiedersehen hatten James und sie das Fenster weit geöffnet und gemeinsam verträumt über das Meer geblickt ...
Antonia konnte gar nichts dagegen tun. Allein der Gedanke, nie wieder in seinen Armen zu liegen, trieb ihr heiße Tränen in die Augen. Wie sie seine Berührungen vermissen würde, seinen begehrlichen Blick, wenn sie sich ihrem Liebesspiel nach einer kleinen Pause nur noch leidenschaftlicher hingaben, seine zärtlich gemurmelten Worte, wenn sie schließlich erschöpft in seinem Arm lag. Antonia wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und zwang sich, dem Geschehen in dieser Hütte zu folgen und nicht in einen Traum abzuschweifen, in dem zu schwelgen sie sich für alle Zeiten versagt hatte. Um sich abzulenken, musterte sie die alte Frau intensiv.
»Was möchten Sie trinken?«, krächzte diese gerade und sah dabei nur den Professor an.
Die Alte hatte einen leicht gebeugten Rücken und erinnerte Antonia an die Geschichte mit der Hexe aus einem Buch mit deutschen Märchen, das Harata ihr immer wieder hatte vorlesen müssen. Von einem Geschwisterpaar, das von den Eltern im Wald ausgesetzt worden und dort einer bösen Hexe begegnet war. Die Maori hatte dieses Märchen gar nicht gern gemocht. Sie hatte ihr lieber alte Maorilegenden erzählt. Die hatten die kleine Antonia zwar auch fasziniert, aber immer wieder hatte sie gebettelt: »Toni will Hexe!« Und immer wieder hatte sie von der Maori wissen wollen, warum die Eltern so böse waren und einfach ihre Kinder in den Wald schickten. Harata war daran manchmal schier verzweifelt. Einmal hatte sie gesagt: »Weil es ein dummes Pakeha-Märchen ist.«
»Nein danke, Misses Baldwin. Ich möchte gar nichts trinken«, sagte Arthur höflich, doch schon hatten Antonia und er jeweils ein halb volles Whiskeyglas vor sich auf dem Tisch stehen.
»Miss Baldwin, ich bin Miss Baldwin, ich war nie verheiratet, aber Sie können mich auch Lucille nennen«, kicherte die alte Frau, goss sich mindestens noch einmal das Doppelte ein und trank es in ein paar wenigen kräftigen Schlucken aus.
»Ich habe es gesehen«, raunte sie schließlich geheimnisvoll, während sie sich das zweite Glas einschenkte.
»Ja, Miss Baldwin, deshalb haben wir uns auch auf den Weg gemacht, um Ihren Fund zu begutachten.«
»Ach, das dumme Ei«, schnarrte sie. »Das meine ich nicht. Ich habe es wirklich gesehen. Das Tier. Ach, was rede ich, mehrere.«
Arthur warf Antonia einen fragenden Blick zu.
»Was genau haben Sie gesehen, Miss Baldwin?«, fragte Antonia.
»Eine Moa-Familie. Dort hinten auf der Ebene, dort, wo die Knochen gelegen haben.«
»Aber der Moa ist doch schon lange ausgestorben«, widersprach Antonia ihr heftig.
»Ach, was verstehst du schon von Moas, Kleine? Meine Augen sind so scharf wie die eines Adlers. Es war ein Weibchen mit ihrem Kind.«
Arthur seufzte tief. »Miss Parker hat recht. Es gibt keine Moas mehr. Ich glaube fest daran, dass das Volk der Moa-Jäger, das lange vor den Maori hier lebte, sie vollständig ausgerottet hat.«
»Ich habe sie gesehen«, entgegnete die Alte trotzig und stampfte zur Bekräftigung mit dem Fuß auf. Dann schenkte sie sich ein weiteres Glas voll. Während des Zuprostens sah sie Antonia, die noch keinen Schluck davon angerührt hatte, auffordernd an. Widerwillig nippte Antonia an dem Whiskey und schüttelte sich. Die alte Frau lachte heiser auf.
»Ich habe Ihr Buch über die Moa-Jäger gelesen, Professor, aber Sie müssen mir glauben, ich habe sie gesehen.«
Antonia ahnte nun, warum die Alte Moas sah, wo keine sein konnten. Wahrscheinlich hatte sie zu tief ins Glas geguckt.
»Erst stand die Mutter vor mir. Diese dicken Beine und dieser kleine Kopf, und dann kam das Kind. Als ich mich näherte, liefen sie weg.«
»Sehr aufregend, Miss Baldwin, aber nun zeigen
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