Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Ausstrahlung ihrer Mutter. Nein, sie war auf dem besten Wege, sich zu einer Frau zu entwickeln. Vielleicht hält man mich auch schon für achtzehn, hoffte Barbra, während sie ihrem Spiegelbild noch einen letzten prüfenden Blick zuwarf.
Peter wartete bereits ungeduldig im Wagen, als Antonia und sie angehetzt kamen. »Misses Evans, Sie sind die Hauptperson des Abends und dürfen auf keinen Fall zu spät kommen«, knurrte er. Er war der Einzige im Haus, der so mit Antonia reden durfte, weil er sie schon ihr ganzes Leben lang kannte. Peter Stevensen hatte damals für ihre Eltern jenes prächtige Haus gebaut, in der ihre Mutter und sie heute noch lebten. Für sich selbst hatte er ein Gartenhaus auf dem Grundstück errichtet. Peter war einfach unentbehrlich. Er chauffierte sie, er reparierte alles, und er hielt den Garten in Ordnung. Sogar kochen konnte er. Das hatte ihm seine verstorbene Frau beigebracht. Und Maori-Legenden konnte er erzählen, als wäre er selbst ein Maori. Die hatte er auch von seiner Frau. Immer, wenn er über seine Harata sprach, füllten sich seine Augen mit Tränen.
Barbra liebte den alten Mann wie einen Großvater und konnte kaum glauben, dass er bald siebzig Jahre alt wurde.
»Du schaffst das schon, Peter. Dann fährst du eben ein bisschen schneller«, sagte Antonia entschuldigend.
Als Barbra und Antonia wenig später den festlichen Saal betraten, waren fast alle Plätze besetzt. Sie mussten an den gesamten Honoratioren vorbei, weil man für sie in der ersten Reihe reserviert hatte. Dort saßen die Professorenkollegen. Kaum dass sie ihre Plätze eingenommen hatten, sah sich Barbra unauffällig um. Sie blieb an einem Paar tiefgrüner Augen hängen, die sie interessiert musterten. Verlegen senkte Barbra den Blick und versuchte, sich auf die erste Rede zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Wieder drehte sie den Kopf in Richtung des jungen Mannes. Ihre Blicke trafen sich. Er lächelte sie an. Sie lächelte zurück. Allerdings hatte sie das Gefühl, sie würde dabei knallrot anlaufen. Der junge Mann, den sie auf Anfang zwanzig schätzte, sah umwerfend aus. Er hatte dichte blonde Locken und ein markantes Gesicht. Wenn der wüsste, dass ich noch keine sechzehn bin, dachte sie und wandte sich abrupt ab. Er muss mich für ein kokettes Ding halten, wenn ich ihn weiter so anstarre. Obwohl die Versuchung groß war, hielt Barbra die Augen für den Rest der Veranstaltung starr nach vorn gerichtet. Trotzdem bekam sie kein Wort von dem, was dort vorn geredet wurde, mit. Ihre Gedanken kreisten unablässig um den jungen Mann. Sie spürte seinen Blick förmlich auf ihren Wangen brennen. Erst als ihre Mutter zum Rednerpult ging, schaffte Barbra es zuzuhören. Antonia war eine gute Rednerin. Sie zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Und nicht nur die Männer hingen ihr an den Lippen, wie Barbra mit einem Blick in Richtung des jungen Mannes feststellte, der ihr gebannt zuhörte. Auch einige Damen zogen verstohlen ihre Taschentücher hervor, als Antonia die Geschichte erzählte, wie ihr geliebter Mann und sie einst das Modell eines Riesenmoa aus Pappmaché und Gips gebastelt und es mit Emufedern versehen hatten. Das erste laute Schluchzen ertönte, als sie von ihm in höchsten Tönen als Vater ihrer gemeinsamen Tochter schwärmte. Da wurde auch Barbra ganz anders zumute. Tränen rannen ihr über das Gesicht, und sie verschwendete keinen Gedanken daran, was der junge Mann wohl dazu sagen würde, dass sie in aller Öffentlichkeit heulte.
Als Antonia auf ihren Platz zurückkehrte, griff sie nach Barbras Hand und drückte sie zärtlich. So vereint lauschten sie der Musik, die zum feierlichen Abschluss gespielt wurde. Danach gab es Arthur zu Ehren ein Essen. Auf dem Weg in die Mensa begegneten sie einem von Arthurs Professorenkollegen, der auch eine Rede gehalten hatte und sich zu Barbras Entzücken in Begleitung des jungen Mannes aus der ersten Reihe befand.
»Gnädige Frau, Ihre Worte waren anrührend«, sagte er sichtlich bewegt.
»Danke, Professor Leyland. Ihre Rede hätte Arthur allerdings auch begeistert«, entgegnete Antonia höflich und deutete auf Barbra. »Darf ich Ihnen unsere Tochter Barbra vorstellen?« Artig reichte Barbra dem Professor die Hand.
Während er sie schüttelte, stellte er ihnen den jungen Mann vor. »Und das ist mein Sohn Thomas. Er ist gerade von seinen Studien aus London zurückgekehrt. Leider tritt er nicht in meine Fußstapfen, sondern ist mehr an der Welt der Streithähne
Weitere Kostenlose Bücher