Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
erfahren muss?«, fragte Grace verärgert, während sie ihrer Tante widerwillig folgte.
»Dass er die Liebe meines Lebens war«, entgegnete Suzan, und während sie diese Worte sprach, wurde ihr Gesicht auf einmal ganz weich.
Wie ein junges Mädchen sieht sie plötzlich aus, dachte Grace, und nicht einmal die Narbe konnte diesen Eindruck schmälern.
Dunedin, Januar 1957
Suzan liebte es, ungestört im Moa-Verlies, wie ihre Schwester Deborah den Keller spöttisch bezeichnete, zu stöbern. Jeden Tag fand sie in den zahlreichen Kisten neue spannende Schätze, die sie mit Feuereifer in die Vitrinen einsortierte. Für Suzan stand fest, dass sie gleich nach dem Schulabschluss im April Biologie studieren und in die Fußstapfen Großmutter Antonias und Großvater Arthurs treten würde. Das, was ihre Mutter und Schwester als tote Knochen bezeichneten, faszinierte Suzan über die Maßen. Ihr größtes Ziel war, der seit Antonias Tod verwaisten Ornithologischen Gesellschaft Dunedins neues Leben einzuhauchen und herauszufinden, warum der Urvogel ausgerottet worden war, und wie es dazu kommen konnte, dass dies binnen einer relativ kurzen Zeitspanne geschehen war, wie es neuere Forschungen bewiesen.
Suzan packte gerade eine Kiste mit alten Büchern aus, als ihr ein Schulheft in die Hände fiel. Neugierig las sie die Aufschrift: Das Geheimnis des letzten Moa. Ein Märchen von Antonia Evans. Nachdem Suzan den gröbsten Staub weggepustet hatte, strich sie ehrfürchtig über den Deckel, auf dem ihre Großmutter in fein geschwungener Schrift eine Widmung für Arthur und Barbra verfasst hatte. Suzan hockte sich auf einen Schemel und schlug das Heft auf.
Kaum hatte sie die Geschichte zu Ende gelesen, liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie musste plötzlich an ihre unglückliche Mutter denken, die zurzeit wieder einmal gänzlich unleidlich war. Nach Tante Normas Tod war es mit ihren Launen nur noch schlimmer geworden. Ganz im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester nahm sich Suzan die ständigen Sticheleien ihrer Mutter sehr zu Herzen.
An Debbie prallte das alles ab. Sie war viel zu sehr mit dem Heer ihrer Verehrer beschäftigt. Da konnte Barbra tausendmal mahnen, dass ihre Töchter sich bloß vor jungen Männern in Acht nehmen sollten. Barbra behauptete immer, die würden alle Frauen nur belügen und betrügen. Diese Worte ihrer Mutter aber erreichten Suzans quirlige Schwester nicht im Entferntesten. Sie wurde umschwärmt wie eine Prinzessin und genoss das sichtlich. Kein Mädchen, das Suzan sonst kannte, konnte den Männern so charmant zu verstehen geben, dass sie ihr allesamt etwas bedeuteten. Und keine konnte sich so herrlich über diese armen Kerle amüsieren, kaum dass sie aus der Tür waren. Debbies Verehrer gaben sich in der Evans-Villa, wie Barbra und ihre Töchter das Haus nannten, obwohl sie doch Leyland hießen, förmlich die Klinke in die Hand. Und das zu Barbras großem Kummer.
Suzan seufzte. Sie konnte ja verstehen, dass ihre Mutter den Betrug ihres Mannes niemals ganz verwunden hatte, aber warum wurde sie nach so langer Zeit immer unleidlicher? Und warum ließ sie ihre schlechten Launen immer häufiger an ihr, an Suzan, aus? Es war doch schließlich Debbies Verhalten, das ihren Unmut erregte. Sie pflegte die vielen Männerbekanntschaften und das enge Verhältnis zu ihrem Vater, was Barbra mit Missfallen beobachtete.
Suzan hingegen hielt Abstand zu Thomas. Nicht, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, sondern weil sie nie richtig warm geworden war mit diesem gut aussehenden Charmeur. Sie hielt ihn für oberflächlich. Früher hatte er versucht, auch Suzan mit seinem Charme einzuwickeln, aber sie war schon als Kind immun gegen seine Schmeicheleien gewesen. Stets hatte er Dinge versprochen, die er später nicht gehalten hatte. Anfangs war sie jedes Mal enttäuscht gewesen, doch schließlich hatte sie ihm kein Wort mehr geglaubt. Sie besuchte ihn nur, wenn es unbedingt sein musste. Wenn er Geburtstag hatte oder in den Ferien. Und immer, wenn Suzan bei ihm und Julia zuhause war, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass ihr Vater die Mutter von Anfang an mit dieser Frau betrogen hatte. Deshalb konnte sie auch ihre Schadenfreude darüber kaum verhehlen, dass ihr Vater gänzlich unter Julias Fuchtel stand und immer unglücklicher wurde. Julia kontrollierte jede seiner Handlungen. Sie würde er wohl kaum so gemein betrügen können, weil er ihr über alles Rechenschaft ablegen musste.
Debbie schien das alles nicht zu
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