Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
schlenderten sie kurz darauf den Hügel empor, auf dem die viktorianische Villa der Waynes thronte. Ob wir dort wohnen werden?, fragte sich Selma.
Vor dem eisernen Tor blieb Charles unvermittelt stehen.
»Geh du nur vor«, sagte er energisch. »Dann schleiche ich mich hinterher.«
»Aber warum können wir nicht gemeinsam ins Haus gehen? Wenn uns jemand zusammen sieht, dann sagen wir ihnen eben, was los ist.«
»Kleines, doch nicht heute Nacht. Wir müssen einen geeigneten Zeitpunkt abwarten. Nun geh schon!«
Täuschte sie sich oder klang das ein wenig unwirsch? Sie blickte ihn fragend an. Zwischen seinen Augen war nun eine scharfe Falte zu erkennen, die sie vorhin gar nicht wahrgenommen hatte.
»Gut, dann verschwinde ich schnell, bevor uns noch jemand zusammen sieht«, bemerkte sie verunsichert. Sie wunderte sich über ihre eigene Stimme. Die war ihr so fremd. Hastig ließ sie Charles los. Dabei kam sie ins Schlingern. Ohne seine stützende Hand schien plötzlich der Boden unter ihr zu wanken.
Charles aber machte keine Anstalten, sie aufzufangen, geschweige denn, sie zum Abschied zu küssen. Es kam Selma so vor, als würde sich über die Magie der vergangenen Stunden ein dunkler Schatten legen. Wo war das Lachen, wo die Leichtigkeit, wo die schmeichelnden Worte? Sie spürte, dass er mit seinen Gedanken längst woanders war. Wollte er sie loswerden? Hatte Mama Maata doch recht, und er war nichts weiter als ein Schürzenjäger?
Selma konnte keinen Gedanken zu Ende führen. Ihr wurde schummrig. Sie lehnte sich gegen das Eisentor und atmete einmal tief durch.
»Liebchen, was schaust du so traurig?« Charles nahm sie doch noch einmal in die Arme. »Glaubst du etwa, ich schäme mich deiner?«
Selma hob die Schultern.
»Wie kannst du so etwas denken? Das fällt mir doch auch schwer, dich gehen zu lassen. Und deshalb möchte ich dich auch ganz bald wiedersehen. Morgen Nacht an derselben Stelle?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Selma.
»Und wenn ich dir verspreche, dass ich morgen eine günstige Gelegenheit suche, meiner Mutter von uns zu erzählen? Vielleicht habe ich am Weihnachtsabend bereits ihren Segen.«
Selma blickte ihn skeptisch an, doch er strahlte und küsste sie zum Abschied. Seine leidenschaftlichen Worte und der betörende Kuss überzeugten sie davon, dass sie ihm doch von Herzen trauen durfte.
Als Selma auf unsicheren Beinen durch den Park wankte, hörte sie plötzlich Schritte. Sie blieb erschrocken stehen. Aus dem Dunkel der Bäume trat Damon hervor. In der Hand hielt er ein Geschenk.
Schamesröte trat Selma ins Gesicht. Er wartete auf sie, obwohl sie ihn eiskalt versetzt hatte.
»Damon, ich, es tut mir leid, es war, ich hatte ...«
»Ich weiß, du hattest eine dringende Verabredung.« Ohne Vorwarnung zog er sie hinter einen prächtigen rot blühenden Eisenbaum. »Er muss ja nicht unbedingt mitbekommen, dass ich euch gesehen habe«, raunte Damon der verdutzten Selma zu. Sie konnte aus ihrem Versteck sehen, wie Charles jetzt summend und mit hochzufriedener Miene auf das Haus zusteuerte.
»Sie haben uns gesehen?«, fragte Selma erschrocken, nachdem alles wieder ruhig war.
»Ich habe euch an der Pforte stehen sehen. Ja, das habe ich«, erwiderte Damon ausweichend.
»Es ist nicht so, wie Sie denken. Es ist ...« Selma stockte. Ihr fiel beim besten Willen keine passende Ausrede ein.
»Ich kenne meinen Bruder. Unglaublich, dass er es immer gleich am ersten Abend schafft, die Mädchen unsterblich in sich verliebt zu machen. So verliebt, dass sie in seinen Armen sogar ihre große Liebe vergessen.« Seine Worte klangen bitter.
»Große Liebe, aber wovon sprechen Sie? Ich, ich weiß, dass ich das nicht hätte tun sollen. Nicht beim ersten ...« Sie unterbrach sich, weil sie auf keinen Fall wollte, dass Damon alles erfuhr.
»Und er macht die Mädchen betrunken und sie sich damit zu Willen. Haben Sie mir nicht erzählt, wie sehr Sie Ihren Mann geliebt haben?«, ergänzte Damon.
»Ich bin nicht betrunken«, widersprach Selma kläglich. Und dass sie ihm erzählt haben sollte, dass Will ihre große Liebe gewesen sei, vermochte sie sich beim besten Willen nicht vorzustellen.
»Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer«, sagte er in strengem Ton.
»Aber wenn das jemand beobachtet. Nicht, dass sie vermuten, wir beide ...«
»Und wenn schon. Sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich lasse Sie in diesem Zustand bestimmt nicht allein.«
Entschlossen hakte er Selma unter und führte sie zu ihrem winzigen Zimmer
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