Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Ihnen persönlich mitteilen, dass ich das Geschäft ab sofort an meinen Sohn Charles Wayne übergebe. Nach dem tragischen Verlust meines Sohnes Damon ...
Selma las die letzten Zeilen wieder und wieder, aber sie war zu geschockt, um weinen zu können. Erst nach einer halben Ewigkeit konnte sie weiterlesen: ... werde ich ausschließlich meiner Tätigkeit als Architekt nachgehen. Mein Sohn würde Sie gern einmal persönlich aufsuchen, weil er Ihnen unser neuestes Schiff anbieten möchte. Es würde sich hervorragend dazu eignen, es als Kühlschiff zu befrachten. Charles hat in der letzten Märzwoche in Christchurch zu tun und würde Ihnen auf dem Weg dorthin einen Besuch abstatten. Bitte teilen Sie mir mit, ob es Ihnen genehm wäre ...
Selma ließ den Brief sinken und starrte wie betäubt vor sich hin. Dann nahm sie sich einen von Misses Buchans Briefbögen und begann mit zittrigen Fingern eine Antwort zu verfassen.
Sehr geehrter Mister Wayne, ich spreche Ihnen auf diesem Weg mein herzlichstes Beileid aus und will nicht neugierig sein, aber da ich auch einst mein Kind verloren habe, darf ich Sie vielleicht fragen, was genau mit Ihrem Sohn geschehen ist. Was den Besuch Ihres Sohnes Charles angeht, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich Ende März nicht in Waikouaiti sein werde. Ich denke, das werden wir zu einem späteren Zeitpunkt nachholen.
Hochachtungsvoll
Ihre
Amanda Buchan
Selma steckte den Brief hastig in ein Kuvert und adressierte ihn. Dann ließ sie den Kopf auf den Schreibtisch sacken und schluchzte laut auf. Die Nachricht von Damons Tod wollte ihr schier das Herz brechen. Erst als Antonia aufwachte und wie am Spieß brüllte, trocknete Selma ihre Tränen und holte das Kind aus der Wiege, um es zu füttern.
Nachdem sie mit der Arbeit fortgefahren war, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie konnte doch unmöglich diesen Brief hinter Misses Buchans Rücken abschicken. Schließlich waren Mister Wayne und die alte Dame Geschäftspartner. Die Lüge würde schneller ans Licht kommen, als ihr lieb war. Und was, wenn sie Misses Buchan nach so vielen Monaten erzählte, dass es die Waynes gewesen waren, die sie so schlecht behandelt hatten? Würde Misses Buchan sich nicht zwangsläufig auf die Seite der feinen Herrschaften schlagen?
Sie zuckte zusammen, als die Tür klappte und Misses Buchan auf einen Stock gestützt eintrat. Die alte Lady sah entsetzlich aus. Ihr Gesicht war blass und faltig, das feine Haar hing ihr in Strähnen vom Kopf, und sie trug nur einen abgetragenen Morgenmantel.
»Erschrick nur nicht, Kind, ich gehe gleich wieder ins Bett. Ich habe mich wohlverkühlt ....« Ein bellender Husten unterbrach ihren Satz. War das wirklich nur eine harmlose Grippe, wie Misses Buchan die ganze Zeit über steif und fest behauptete? Selma sprang auf und half der Kranken, sich auf einen Stuhl zu setzen.
»Das ist wirklich nichts«, versuchte die alte Dame Selma zu beschwichtigen, nachdem das letzte Keuchen verklungen war. »Aber ich muss dringend einen Brief beantworten, der schon über eine Woche bei mir liegt. Hast du den zufällig in den Händen gehabt? Er ist von einem Reeder, bei dem wir Schiffe chartern. Mister Adrian Wayne in Dunedin. Sein Sohn wird das Geschäft übernehmen. Das wurde aber auch höchste Zeit. Der Mann interessiert sich ohnehin nicht für Schiffe, hält sich für einen Künstler und versucht, mich ständig zu überreden, mir ein neues Wohnhaus zu bauen, das er entwerfen will. Im viktorianischen Stil. So ein Blödsinn. Otahuna ist eine Farm und kein Königshof.«
Während sich Misses Buchan weiter über Mister Wayne ausließ, arbeitete es fieberhaft in Selmas Kopf. Was sollte sie bloß tun? Schweigen, ihr Antwortschreiben verschwinden lassen und riskieren, eines nicht allzu fernen Tages Charles Wayne gegenüberzusitzen, oder Misses Buchan die Wahrheit anvertrauen?
Sie kämpfte noch mit sich, als die alte Dame sie unvermittelt fragte: »Ist etwas? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Ohne weiter zu überlegen, griff Selma nach dem Antwortschreiben und reichte es Misses Buchan mit den Worten: »Charles Wayne ist Antonias Vater, und seine Familie hat mich aus dem Haus geworfen. Damon ist der Mann, der mich heiraten wollte.«
Misses Buchan vertiefte sich in den Brief und blickte Selma schließlich durchdringend an. »Meinst du, das ist genug?«, fragte sie nach einer ganzen Weile.
»Ich verstehe nicht, ich ... es tut mir leid, dass ich ...«, stammelte
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