Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Empörung. Dann rief sie: »Sam, anhalten!«
Selma hatte das Gefühl, ihr Herzschlag müsse aussetzen, aber die Kutsche fuhr weiter. Der Kutscher schien den Ruf der alten Dame nicht gehört zu haben.
»Bitte, bitte, gute Frau, nehmen Sie mich mit, wohin Sie auch fahren. Bitte!«
»Warum sollte ich?« Sie machte Anstalten, erneut nach dem Kutscher zu rufen, aber dann musterte sie Selma, die sich auf die gegenüberliegende Bank gekauert hatte, durchdringend. »Wie sehen Sie überhaupt aus? Sind Sie ein Dienstmädchen? Ich meine, wer geht sonst mit Schürze auf die Straße?«
»Ich ... ich ... ja, ich habe in einem Haushalt, ich ...«, stammelte Selma und band sich verlegen die Schürze ab. »Ich werde verfolgt!«, fügte sie gehetzt hinzu.
Die alte Dame betrachtete Selma kopfschüttelnd durch ihr Lorgnon.
»Warum?«
Selma blieb ihr eine Antwort schuldig. Es hatte doch keinen Sinn. Sollte sie ihr etwa die ganze Geschichte erzählen? Die alte Dame würde ihr ohnehin kein Wort glauben.
»Also, ich frage Sie zum letzten Mal. Warum sollte ich Sie in meiner Kutsche mitnehmen? Nennen Sie einen vernünftigen Grund.«
»Sagen wir so. Ich bin ein Dienstmädchen und kann nicht mehr zu meinen Herrschaften zurück.«
»Hast du etwa gestohlen?«, fragte die alte Dame mit scharfer Stimme.
»Nein, ich erwarte ein Kind vom Sohn des Hauses. Da wollte man mich loswerden und jagte mich davon.«
Die alte Dame runzelte die Stirn und murmelte: »So, so. Und wo willst du hin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du denn keine Verwandten, die dich aufnehmen können?«
»Nein, ich bin erst im Oktober letzten Jahres aus Cornwall hierhergekommen und habe meinen ...« Sie stockte, überlegte und sagte dann rasch: »Ja, und dann kam ich zu den Herrschaften. Das sind die einzigen Menschen, die ich in Neuseeland kenne. Außer dem Sohn des Hauses natürlich.«
»Kannst du kochen und backen?«
Selma nickte eifrig.
»Gut, dann werde ich es mit dir versuchen, aber ich kann dir nicht versprechen, ob ich dich behalte. Ich bin sehr eigen mit den Menschen, die ich in meiner Nähe dulde, doch nach dem ersten Eindruck zu urteilen, gefällst du mir. Ich kann mir nicht helfen, du erinnerst mich an mich selbst, als ich in deinem Alter war. Aber der erste Eindruck kann auch täuschen.«
Selma sah sie ungläubig an. »Aber, ich ... ich bekomme ein Kind. Und ich werde es im Leben nicht weggeben, falls Sie das von mir verlangen.«
Die alte Dame lächelte. »Warum sollte ich? Ich bin eine gläubige Presbyterianerin und sehe es als meine Christenpflicht an, dir meine Hilfe anzubieten. Wenngleich ich keinerlei Verständnis dafür habe, wie man sich leichtfertig einem anderen als seinem Ehemann hingeben kann. Ich hoffe, du entpuppst dich nicht als haltloses Geschöpf.«
»Sie wollen mich wirklich mit zu sich nehmen?« Selma konnte ihr Glück kaum fassen.
»Ich sage ungern Dinge zweimal, ich will es versuchen.«, entgegnete die alte Dame streng und streckte ihr förmlich die Hand entgegen. »Ich bin Misses Amanda Buchan.«
Selma nahm die Hand der alten Dame, die einen erstaunlich kräftigen Händedruck hatte. »Ich bin Selma Parker.«
Selma betrachtete die alte Dame nun näher. Sie rätselte, wie alt Misses Buchan wohl war. Ihr Alter zu schätzen war nicht einfach, denn sie hatte wenig Falten, aber eisgraues Haar. Wahrscheinlich ist sie älter, als sie aussieht. Aber über siebzig ist sie allemal, mutmaßte Selma.
»So, mein Kind, wir haben noch einen kleinen Weg vor uns. Wie wäre es, wenn du mir nun die ganze Geschichte erzählst? Oder willst du behaupten, der Mann, der versucht hat, dich von der Kutsche zu zerren, war ein feiner Herr?«
»Aber ... aber woher wissen Sie, dass ...«
»Mein Kind, noch bin ich nicht ganz taub und blind! Ich habe sein entsetzliches Fluchen bis in die Kutsche gehört und dann aus dem Fenster gesehen, bis du hier eingedrungen bist.«
»Nein, das war natürlich kein feiner Herr. Das war mein Schwager.«
»Das wird ja immer schöner. Erst kennst du gar keine Menschenseele in Neuseeland und nun hast du schon einen Schwager. Meine Liebe, ich kann dir nur raten: Erzähl mir die Wahrheit. Ich kann Lügner nicht ausstehen und dulde sie nicht in meiner Nähe. Das würde ich sehr bedauern, aber ich müsste dich dann schnellstens irgendwo rauslassen.«
Selma konnte nichts dagegen tun. Tränen rollten ihr die Wangen hinunter. Schließlich begann sie schluchzend, Misses Buchan ihre ganze Geschichte zu erzählen.
Die alte Dame
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