Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Geschäft mit dem gefrorenen Fleisch reich gemacht. Längst reicht uns das Fleisch der eigenen Zucht nicht mehr, und wir werden von etlichen Farmen zusätzlich beliefert. Bei uns werden die Tiere dann geschlachtet und schon gekühlt mit Wagen nach Port Chalmers gebracht. Ja, und Art war sehr stolz darauf, welcher Wohlstand auf Otahuna herrschte. Mir persönlich waren ja die Erträge der Wolle völlig ausreichend, aber Art war besessen von dem Kühlfleisch, sodass wir heute nur noch mit Fleisch handeln.«
Misses Buchan verfiel nach ihrer langen Rede in grüblerisches Schweigen. Nach einer ganzen Weile sah sie Selma, die sich nicht traute, neugierige Fragen zu stellen, prüfend an.
»Selma Parker, willst du eigentlich gar nicht wissen, wo dein neues Zuhause ist?«
»Doch, schon«, entgegnete sie hastig. Dabei war es ihr gleichgültig, wohin die Reise ging. Ihr war gleichgültig, wo Otahuna lag. Hauptsache, es war weit genug weg vom grünen Hügel der Waynes. Schon bei dem Gedanken an diese Menschen erzitterte sie vor Wut. Sofort fielen ihr all die Demütigungen ein, die sie heute hatte erleiden müssen. Und wieder ergriff dieser teuflische Wunsch nach Rache von ihr Besitz.
Waikouaiti, März 1885
Immer wieder schielte Selma verliebt in die Wiege, die Misses Buchan ihr geschenkt hatte. Die hatte dieses Prachtstück einst für ihr Kind schreinern lassen und auf dem Dachboden gelagert, nachdem das Mädchen gestorben war. Selma hatte das kostbare Geschenk erst gar nicht annehmen wollen, aber Misses Buchan hatte darauf bestanden. Überhaupt verhielt sich die alte Dame wie eine echte Großmutter. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, das Kind zu herzen und zu verwöhnen.
Antonia sei das hübscheste Baby weit und breit, pflegte sie in einem fort von dem kleinen Mädchen zu schwärmen. Dass sie hübsch war, das fand Selma allerdings auch. Antonia hatte blonde Locken, blaue Kulleraugen und ein bezauberndes Lächeln. Selma liebte dieses kleine Wesen, seit sie es Anfang September des vergangenen Jahres auf die Welt gebracht hatte, über alles. Und sie war froh darüber, dass die Kleine ihr ähnlich war und auf den ersten Blick nichts von der Familie Wayne besaß.
Misses Buchan hatte sich an diesem regnerischen Herbsttag ein wenig hingelegt. Seit Tagen schon fühlte sie sich nicht wohl. Bislang hatte sie sich geweigert, deshalb das Bett zu hüten. »Pah, das bisschen Husten. Ich bin doch nicht krank«, hatte sie ihren Zustand abgetan. Heute nun hatte sie Selma gebeten, die liegengebliebene Post durchzusehen. Selma war längst nicht mehr in der Küche und im Haushalt beschäftigt, sondern eine Art rechte Hand für die alte Dame geworden. Sie begleitete Misses Buchan zu allen geschäftlichen Terminen, richtete die von Misses Buchan verhassten, aber notwendigen Gesellschaften aus und nahm ihr den lästigen Papierkram ab. Nur die Post, die hatte die alte Dame bislang immer noch persönlich erledigt.
Es fiel Selma nicht leicht, sich von der schlafenden Antonia abzuwenden, aber Misses Buchans Schreibtisch quoll förmlich über. Auf der linken Seite waren die bereits gelesenen Briefe gestapelt, auf der anderen die ungeöffneten. Seufzend machte sich Selma an die Arbeit. Sie wunderte sich selbst am meisten darüber, dass sie sich so rasch eingearbeitet hatte. Am Anfang hatte es sie ein wenig gegruselt, dass Misses Buchan auf ihrem Anwesen in Waikouaiti einen eigenen Schlachthof betrieb, aber mittlerweile hatte sie sich auch daran gewöhnt. Sie wollte ihn nur nicht besichtigen. Ein paarmal hatte Misses Buchan sie schon dorthin mitnehmen wollen, aber das hatte Selma stets abwenden können. Irgendwann würden ihr wohl die Ausreden ausgehen, und sie musste der alten Dame wohl oder übel gestehen, dass sie kein Blut sehen konnte.
Die Schreibarbeit ging ihr flink von der Hand. Den linken Stapel hatte sie fast abgearbeitet. Sie ordnete die Briefe wiederum in zwei Stapel. Auf dem einen platzierte sie die Post, die sie ohne Absprache mit Misses Buchan beantworten konnte, und auf dem anderen die Anfragen, wegen der sie Rücksprache halten wollte.
Sie hatte sich gerade den letzten Brief vom linken Stapel gegriffen, als sie erstarrte. Auf dem Briefkopf prangte fett der Name Wayne. Sie schluckte trocken. Auch die Adresse stimmte überein. Am liebsten hätte sie den Brief ungelesen weggeworfen, aber dann öffnete sie ihn doch: Hochverehrte Misses Buchan, nachdem wir nun bereits so viele Jahre erfolgreich zusammenarbeiten, darf ich
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