Das Geheimnis des Nostradamus
Enkel beigebracht hatte. Und schließlich verkehrte seine Familie mit gebildeten Arabern, die viel über Zahlenmystik, Amulettzauber und Pflanzenheilkräfte wussten. Aber durch diesen Stammbaum wäre ja Nostradamus auch noch als Prophet erblich belastet…
Ehrfurchtsvoll schob sie das Pergament zurück in den Einband und beeilte sich, die Werke von Paracelsus und Pythagoras, Hildegard von Bingen und das über die ägyptischen Hieroglyphen im Lederkoffer zu verstauen. Da fiel ihr Blick auf ein auseinander gefaltetes Pergament, das achtlos auf dem Holzregal abgelegt war. Es stammte vom Bischof von Agen, Jean von Lothringen, der zurzeit das Schloss St. Germain-en-Laye besuchte. Der Brief war in einer steil geschwungenen Schrift verfasst, beim Öffnen des Siegels waren die Adlerschwingen des lothringischen Wappens in glänzende Lackstückchen zerbrochen. »… auf Befehl Seiner Allerchristlichen Majestät, König François, ist Louis de Rochette, Inquisitor für die Provinz Languedoc, in Toulouse angekommen, um der Ketzer, die im Lande Seiner Majestät teuflischen Umtrieben folgen, habhaft zu werden und sie mit aller von Gott gegebenen Macht auszurotten. Vielleicht solltet Ihr Euch auf eine kleine Reise begeben…«
Marie schüttelte energisch ihr bronzefarbenes Haar. Die schimmernden Locken fielen weich über ihre zierlichen Schultern. Für ein paar Atemzüge hielt sie inne, dann packte sie entschlossen die restlichen Schriften und Bücher ein.
Der Sichelmond stand schon hoch am Firmament, als Nostradamus zurückkehrte. Seine Schritte hallten über diePflastersteine, das Echo wurde dumpf durch die Stille der Gassen zurückgeworfen. Als er die Haustür aufdrückte, hörte Marie plötzlich die aufgeregte Stimme eines jungen Weibes, die beschwörend auf ihn einredete. Auf Zehenspitzen huschte sie zur Tür, die nur angelehnt war. Unten im Flur stand Nostradamus mit einer Laterne in der Hand. Der bleiche Lichtschein wischte über das Gesicht von Andiette de Roques Lobejac, dem jungen Weib des Monsieur Scaliger. Sie war in einen schweren Kapuzenmantel gehüllt, ihre schmalen Hände rieb sie fröstelnd aneinander.
»Ihr müsst sofort Agen verlassen«, flüsterte sie gehetzt. »Ich habe gehört, dass beim Inquisitor Louis de Rochette gegen Euch ausgesagt wurde. Ihr werdet der Ketzerei bezichtigt! Schon morgen sollt Ihr vor das Tribunal nach Toulouse zitiert werden.«
Nostradamus beugte sich vertraulich zu ihr hinunter. Sein Schatten wölbte sich auf dem groben Verputz noch weiter auf, als wollte er geheime Mitwisser verscheuchen. »Und wer ist dieser Jemand, dass Ihr es wagt, heimlich des Nachts den Weg zu mir zu suchen?«
Andiette schaute verschämt zu Boden. Mit ihrem Fingernagel kratzte sie winzige Schlammspritzer von ihrem Mantel. »Das tut nichts zur Sache. Ich bitte Euch nur von ganzem Herzen, traut meinen Worten.«
»Aber ich bin doch schon einmal der Anklage freigesprochen worden.« Nostradamus hielt die Laterne höher. »Außerdem habe ich im Bischof Jean von Lothringen einen Fürsprecher.«
»Der Bischof kann Euch nicht helfen! Das Tribunal fällt leider nicht unter seinen Machtbereich.« Andiette sah ihn flehend an. Der aufflackernde Lichtschein der Laterne fuhr über ihr blasses Gesicht. »Ich bitte Euch, geht! Ihr habt mir so oft in meiner Krankheit beigestanden und ich könnte es einfach nicht ertragen, wenn er gerade Euch zerstört.«
»Ihr meint, er… hätte keinerlei Skrupel?« Er räusperte sich, als wäre jede Nennung eines Namens überflüssig.
»Skrupel?« Andiette lachte spöttisch. »Wenn es um seine Macht und sein Ansehen geht, ist ihm nichts heilig. Ihr wärt nicht der Erste, den er zu Fall gebracht hat.«
Von draußen näherte sich lautlos eine dunkel gekleidete Gestalt und drückte vorsichtig die Tür auf. »Madame«, flüsterte eine Dienstmagd. »Es ist Zeit. Sonst schaffen wir es nicht, vor ihm zurück zu sein.«
»Ja, ich komme sofort«, antwortete Andiette hastig, wickelte sich noch enger in den Kapuzenmantel und raunte Nostradamus noch zu. »Und dann das junge Mädchen, die Marie…«
Ihre letzten Worte versanken in der Stille.
In dieser Nacht wälzte sich Marie schlaflos auf dem Samtsofa hin und her. Die dünne Decke aus Schafswolle kratzte auf ihrer Haut, als hätte sie das Nesselfieber befallen. Trotz brennender Müdigkeit ließen ihre aufgepeitschten Gedanken sie nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder hörte sie seine drängenden Schritte, wie dumpfe Schläge hallten sie durch die
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