Das Geheimnis des Nostradamus
angeln wollten.
»Hast du gehört?«, kicherte der eine. »Der Inquisitor ist auf der Reise durch die Provence. Ein heißer Hund, sag ich dir. Der heizt den Ungläubigen kräftig ein, bis sie endlich gestehen.«
»Ich weiß«, grinste der andere. »Seine Lieblingsfolter soll sein, dass er die Füße der Verdächtigen in Öl sieden lässt!«
Der Erste schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. »Und Quetschen ist beliebt.«
»Quetschen? Wie meinst du das?«
»Ist doch ganz einfach. Das geht so!« Der eine nahm einen Wurm und quetschte seinen Leib, bis das bräunliche Innere herausplatzte. »Aber bei den Menschen machen sie das so, dass sie nicht gleich sterben.«
Die beiden grölten vor Lachen, während Marie sich angeekelt wegdrehte. Zaghaft schaute sie zu der kleinen Seitengasse hinüber, in der das windschiefe Haus ihrer Eltern stand. Ihr Herz fing an zu rasen, irgendetwas schien ihren Brustkorb mit einer Eisenhand zusammenzudrücken. Wie besessen rannte sie davon. Spitze Steinchen drückten sich in ihre nackten Fußsohlen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Noch hatte sie nicht die Kraft, sich der Vergangenheit zu stellen. Atemlos blieb sie vor der kleinen Kapelle stehen, deren Portale vom Regen ausgewaschen und wie pockennarbige Mahnmale einer vergangenen Zeit übrig geblieben waren. Neben dem Eingang stand auf einem Quader eine steinerne Tierfratze, die Marie mit toten Augen anglotzte. Ihre Zunge hing wie ein massiger Steinfladen aus dem Maul heraus, während der gedrungene Hals so verzerrt aus dem Sockel herausragte, als wollte sie im nächsten Moment rausspringen und davonjagen.
Plötzlich glaubte Marie eine seltsame Schwingung zu fühlen, die sich wie eine dunkle Vorahnung über die Kapelle legte. Verunsichert schaute sie sich um. Ein paar alte Grabsteine starrten düster in die Abenddämmerung, verrostete Kreuze, die zur Seite gekippt waren, streckten ihre zerbrochenen Verzierungen wie Hilfeschreie dem Himmel entgegen.
Wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen, öffnete Marie die schwere Eichentür und zog sie auf. Fröstelnde Kälte schlug ihr entgegen. Von dem kleinen Hausaltar strahlte ihr die Statue der goldblonden Madonna mit den eingelegten Lapislazuli-Augen entgegen. In den goldenen Litzen und Verzierungen ihres Gewandes schimmerte das Licht einer dicken, gelblichen Wachskerze, die vor ihr aufgestellt war. Der Kerzenschein zeichnete einen hellen Kreis auf die zerbrochenen Steinfliesen, der zitternd hin und her wankte. Irgendwoher wehte ein Luftzug. Es roch nach verbranntem Weihrauch. Neben der Madonna versperrte ein Eisengitter mit lanzenartigen Spitzen den Weg. Da hörte sie etwas über den Boden schleifen, der Gang leichter Schritte hallte durch die Kapelle. Marie wirbelte herum und atmete erleichtert auf. Es war nur Pater Bruno in seiner langen Kutte. In seinen Armen hielt er ein paar geschnitzte und bunt bemalte Miniaturen von Marienstatuen.
»Sind sie nicht wunderschön?«, flüsterte Pater Bruno mit andächtiger Stimme und hielt Marie mit ungewöhnlich sanften Fingern eine der Statuetten entgegen: das fein gearbeitete Gesichtchen hatte einen zarten Schmollmund, die kindlichen Hände waren andächtig über dem himmelblauen Sternengewand gefaltet. Das zarte Seidenhaar stammte wohl von einem Kinderkopf.
Marie nickte verlegen. »Ihr habt sie selbst gefertigt?«
Pater Bruno nickte entzückt. »Ja, die ersten Modelle. Ich will sie dann in Zinn gießen und an Gläubige verkaufen. Der Erlös soll dem Kloster zugute kommen. Hier, dir will ich eine schenken. Und grüß Monsieur Notredame von mir.«
Marie nahm die starre, kleine Mariengestalt entgegen. Sie knickste und lief über die Steinfliesen auf die Kapellentür zu. Die eisige Kälte, die aus ihnen emporkroch, jagte ihr kalte Schauer über den Körper. Bevor sie die schwere Eichentür wieder hinter sich schloss, schaute sie noch einmal zu dem Eisengitter mit den lanzenartigen Spitzen hinüber. Von dort führte eine alte Treppe in eine unterirdische Gruft. Ob sich dort wirklich Katharer versteckt hielten, wie Madame Moulin es einmal behauptet hatte? Nachdenklich schlenderte sie in den verwilderten Garten, der hinter der Kapelle lag und von der späten Abenddämmerung in zartes Licht getaucht wurde. Dort stand in voller Blüte ein weit ausladender Rosenstrauch. Eine irrsinnige Süße lag in der Luft. Fledermäuse jagten lautlos wie fliehende Nachtschatten am Gemäuer der alten Kapelle vorbei.
Plötzlich legte sich eine Hand auf Maries
Weitere Kostenlose Bücher