Das Geheimnis des Nostradamus
war vorbei. Er hatte nicht genügend Kanonen gesandt, um die Belagerung der wichtigsten Städte erfolgreich beenden zu können. Seine Armee, die von der Soldateska aus Spanien, italienischen Söldnern und den gefürchteten Landsknechten unterstützt worden war, hatte sich zurückgezogen. Vorher aber waren sie plündernd durch das Land gezogen, hatten Tausende von Bauern niedergemetzelt, ihre Weiber missbraucht und getötet, das Vieh abgeschlachtet. Ertragreiche Ländereien lagen niedergebrannt, wie mit einem Leichentuch aus Asche bedeckt. Marie und Nostradamus wanderten an halb zerstörten Dörfern und verlassenen Gehöften vorbei. Manchmal flatterte ein ausgemergeltes Huhn über die staubige Landstraße, hockte ein verkrüppelter Alter misstrauisch auf einer verfallenen Holzbank. Oder ein paar zerlumpte Kinder, die in einem geheimen Holzverschlag überlebt hatten, hüpften fast lautlos über morsche Zäune und durch verwilderte Gärten, bis sie urplötzlich wieder verschwunden waren. Es geschah aber auch, dass sie freundlich aufgenommen wurden. Gegen ein Stück Schafskäse, etwas Wein und Oliven stellte Nostradamus das Horoskop und Marie half ihm, anhand der Ephemeriden die Positionen der Planeten zu berechnen und aufs Papier zu zeichnen.
Weiter ging ihr Weg, vorbei an Ziegen, die auf kargen Feldern grasten, und Olivenbäumen, deren silbern schimmernde Blätter sich flimmernd im Wind bewegten.
Endlich erreichten sie die Abzweigung nach Saint-Rémy, seinem Geburtsort. Aber wie durch eine göttliche Eingebung schlug Nostradamus den Weg nach Mansol ein. Das war ein geheimnisumwitterter, alter Ort, der ganz in der Nähe lag.
»Ich werde dir die Gegend zeigen, aus der ich stamme und die einen großen Einfluss auf meinen Geist gehabt hat«, sagte er mit sehnsüchtigem Blick, als wünschte er sich selbst nichts mehr, als dorthin zurückzukehren. Marie sah sich staunend um, als sie eine Art Pyramide entdeckte, die vor einem hoch aufragenden Fels inmitten von violettfarbenen Lavendelfeldern stand. In die Felswand führten kleine Höhlen, ihre Eingänge klafften wie Mäuler auseinander. Klägliches Ziegengemecker hallte aus dem Berg, als wären die Tiere von einer seltsamen Unruhe erfasst.
»Dort hatten die Römer ihre Sklaven eingepfercht, geprügelte Männer, missbrauchte Weiber, die ihrer Willkür ausgeliefert waren.« Sein Blick schien die Höhlengänge nach unsichtbaren Steintafeln abzusuchen, auf denen das Schicksal der Menschen festgehalten war. »Manche der Aushöhlungen hat die Natur selbst hervorgebracht, andere wurden in die Wand geschlagen. Heute werden in den Höhlen Ziegen gehalten.«
Nostradamus atmete schwer. Die flirrende Hitze schien wie eine fiebernde Lufthülle über den Feldern zu liegen und dem Lavendel das süßliche Aroma auszusaugen. Es roch, als würde das Land selbst diesen durchdringenden Geruch ausdünsten.
Als sie auf die Ziegenhöhlen zuwanderten, kamen sie an einem hoch gemauerten Torbogen vorbei. Störrisches Unkraut wucherte aus den Steinritzen und warf bizarre Schatten über die kahlen Steine. Trotzdem wehte ihnen hinter jeder Wegbiegung eine neue Duftwolke entgegen: Minze und Salbei wuchsen neben Ginstersträuchen und Rosmarin und Thymian zwischen Resten verfallener Siedlungen. Hinter uralten Mandelbäumen stand ein gewaltiges Grabmal aus römischer Zeit. Geckos huschten über das verwaschene Gestein, ein paar Blindschleichen schlängelten sich unter verdorrtes Gestrüpp. Marie fuhr nachdenklich mit dem Finger über die eingemeißelte Inschrift.
»Sextius Lucius Marcius, Sohn des Gaius, aus dem Geschlecht der Julier, an seine Eltern«, übersetzte Nostradamus leise. Sein Blick war weit in die Ferne gerichtet, so als würde er wieder in eine alte Erinnerung eintauchen. »Früher einmal gab es hier eine bedeutende Stadt«, seine Stimme ächzte, als spürte er das Leiden der Menschen unter seiner eigenen Haut. »Sie hieß Glanum. Zu ihrer Blütezeit war sie so groß und bedeutend, dass sogar eigene Münzen geprägt werden konnten. Aber dann wurde sie zerstört… Es liegt wohl im Schicksal des Menschen, dass er zerstört und aufbaut, mordet und leidet, stiehlt und ausgeraubt wird… bis die Reife der Seele ihm Einhalt gebietet, bis ihn tiefe Erkenntnis und Weisheit in andere Welten trägt…«
Nostradamus schaute über die Felder. Sein Blick war von einem Schleier unsäglicher Traurigkeit überzogen. Marie klopfte sanft dem Maultier über das drahtige Fell. Immer wieder zuckte es
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