Das Geheimnis des Nostradamus
irgendeinem angeheirateten Widerling küssen zu lassen! Sie tastete sich unauffällig über Schenkel und Hüften. Da sollte sie jemand berühren, der sie bis auf den Grund ihrer Seele ekelte? Niemals! Wie auf einem gesponnenen Seidenfaden tanzten ihre Gedanken zu Manuel, mit dem sie sich so verbunden gefühlt und dem sie so vertraut hatte. Sie spürte das Brennen in ihren Augen, das schließlich ihren ganzen Körper erfasste, als wollte ein sehnsüchtiges Feuer sie von innen heraus verzehren. Wie sehr hungerte sie danach, trotz allem in Erinnerungen zu versinken, die zärtliche Wärme seiner Umarmung zu spüren, den Hauch seiner Lippen zu kosten! Doch dann zerbrachen die Bilder. Die Umrisse verschwammen zu einem Trugbild, aus dem höhnisch Manuels Fratze herausgrinste.
Unauffällig wischte sich Marie mit dem Handrücken übers Gesicht. Die Tränen verklebten eine der widerspenstigen Haarlocken, die ihr über die Augen fielen. Ob die tiefe Verletztheit, der Missbrauch der Seele nicht noch schmerzhafter war als der des Körpers?
»Heinrich II. herrscht jetzt über Frankreich«, fuhr Nostradamus mit halb geschlossenen Augenlidern fort. »Und Diane de Poitiers beherrscht ihn.«
Marie räusperte sich, als könnte sie das Zittern in ihrer Stimme einfach hinunterschlucken. »Diane de Poitiers?«, sagte sie endlich und wischte sich die feuchte Locke von der Wange. »Was hat sie denn mit dem König zu tun?«
»Die Herzogin von Valentinois ist seine Mätresse, obwohl sie zwanzig Jahre älter ist als er.« Nostradamus rieb sich über die schmerzenden Handgelenke, die ihn neuerdings plagten, und fuhr spöttisch fort: »Sie lenkt im Verborgenen das Schicksal des Landes, während der neue König Jagdgesellschaften gibt und ausschweifende Feste feiert, bis er dann spät in der Nacht in den immer noch sehr wohl geformten Armen seiner Mätresse liegt.«
»Und Katharina…?«
»Es heißt, sie wäre nicht sonderlich hübsch, aber äußerst willensstark und intelligent. Sie wird wie eine Löwin für ihre Kinder kämpfen.«
»Ihre Kinder? Weshalb muss sie dafür kämpfen?« Marie schaute ihn überrascht an.
Nostradamus starrte geistesabwesend aus dem Kutschenfenster in die Ferne. Ob er die vorbeiziehende, hügelige Landschaft mit den Pinienwäldern überhaupt wahrnahm? Oder das römische Mausoleum und die kleine Kirche, die sich mit ihrem quadratischen Glockenturm an die Bruchsteinmauern eines Klosters anzulehnen schien?
»Sie wird… sieben Kinder bekommen«, sagte er vorsichtig. Für den Bruchteil einer Sekunde flammte in seinem Gesicht unbändiges Entsetzen auf. Eine düstere Gruft hatte sich in einem eiskalten Bild vor seine Augen geschoben. Sieben weiße Gesichtchen schwebten wie bleiche Todesmasken aus der sirrenden Finsternis auf ihn zu, näher und näher. Mit tief liegendem, leerem Blick starrten sie ihn an. Jetzt senkte Nostradamus den Kopf und faltete seufzend die Hände. Marie betrachtete sein kurz geschnittenes, welliges Haar, das unter seinem viereckigen Doktorhut hervorschaute. Es glänzte an einigen Stellen wie das silbrige Glitzern der Olivenhaine. Die Wimpern seiner geschlossenen Augen lagen wie bleierne Flügel auf den düsteren Augenringen, die mit bizarren Fältchen durchzogen waren. Lag jetzt Trauer auf seinem Gesicht? Oder war es zehrender Schmerz, weil er nicht in das Weltgeschehen eingreifen konnte? Mit einer fahrigen Geste griff er wieder nach seinen Schriften, als hätte er ein irdisches Gelübde abgelegt, sich dem Studium der geheimen Wissenschaften mit Leib und Seele zu widmen.
Das gleichmäßige Trappeln der Pferdehufe und das Ruckein der Kutschenräder machten müde. Marie schaute aus dem Fenster und versuchte auf Eingebungen zu horchen, wie Nostradamus es tat. Aber trotzdem trug ihre heimliche Sehnsucht sie wieder zu Manuel. Warum konnte sie dieses unsichtbare Band mit ihm nicht einfach kappen? Sie stellte sich über dem Meer ein langes Schiffstau vor, das von einer riesigen Eisenschere durchschnitten wurde und endlich über der Weite des Ozeans auseinander driftete.
Allmählich ließ die Abendsonne die Felder in Licht versinken, sie sahen aus, als wären sie mit einer rot glühenden Farbe übermalt.
Plötzlich knallten Schüsse durch den Abend. Der Kutscher schrie erschrocken auf und schlug mit Peitschenhieben auf die verängstigten Pferde ein. Marie hörte aufgeregtes Schnauben und Wiehern. Die Kutsche taumelte und schaukelte gefährlich zur Seite. Nostradamus verstaute hastig die Schriften in
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