Das Geheimnis des Nostradamus
seinem Arztkoffer, während er geduckt aus dem Fenster lugte. Die Räder holperten über Steine, die Kutsche flog hoch und Marie und der Arzt wurden auf ihren Bänken mit aller Wucht hin und her geschleudert. Da entdeckte Marie in einem abgelegenen Dorf eine hohe Rauchsäule. Jetzt schlugen Flammen hoch und loderten hell auf, als wäre ein übergroßer Scheiterhaufen entzündet. Der wilde Schrei eines Kindes hallte durch die Nacht. Kurz und grausam bäumte er sich auf, bis er im Flammenmeer erstickte.
»Ein Hugenottendorf! Das ist erst der Anfang. Dieses Elend! Dieser Schmerz, durch den Menschen einander schuldig werden!« Nostradamus legte schützend den Arm um Marie und fügte in tiefer Betroffenheit leise hinzu: »Diese Schuld ist so unermesslich, dass sie nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann!«
Marie vergrub ihr Gesicht unter seinen aufgebauschten Ärmeln. Was meinte er nur damit? Wieder hatte sie so vieles nicht verstanden. Da hallte eine ferne Stimme durch ihre Gedanken: »Alles braucht seine Zeit! Alles muss reifen!«
Endlich ratterte die Kutsche durch eine geöffnete Toreinfahrt in den Hof eines Gasthauses. Wie besessen sprang der Kutscher vom Bock und humpelte gebeugt auf die Eichentüre zu, die er zuwarf und mit einem Eisenriegel versperrte. Die Pferdedecke hatte er schützend um Kopf und Schultern gebunden. Dann lief er auf die schweißtriefenden Pferde zu, denen weißer Schaum vom Maul tropfte, und klopfte ihnen besänftigend über das zuckende Fell. Das Firmament war jetzt von einer schmutzig blauen Farbe überzogen. Kein einziger Stern schimmerte durch die dichte Wolkendecke. Das zaghafte Licht einer Laterne flackerte neben der Eingangstür auf, die in den Gasthof führte. Auf einer Holzplanke blätterte dicke Farbe ab, mit der ungelenk »François« aufgemalt worden war.
»Geht Ihr in den Gasthof aufs Zimmer, dort ist es am sichersten. Ich versorge die Pferde, das Gepäck bringe ich nach«, hörte Marie die gedämpfte Stimme des Kutschers, der die Stuten abschirrte und in einen Stall zerrte. Das aufgebrachte Schnauben beruhigte sich allmählich, das Stampfen der Hufe wurde leiser. Marie beobachtete, wie dem gebeugten Kutscher im Gegenlicht der Stalllaterne die Pferdedecke vom Kopf rutschte. Jetzt richtete er sich auf und kämmte sich mit einer fahrigen Handbewegung sein schulterlanges Haar nach hinten.
Nostradamus hatte Brot und etwas Käse auf die Kammer bringen lassen. Während Marie sich in einem winzigen Stübchen für die Nacht zurechtmachte, saß Nostradamus schon wieder über einen Holztisch gebeugt und kratzte im flackernden Licht einer Talgkerze mit einem Gänsekiel Sätze aufs Papier.
»Ich werde sie verschlüsseln müssen!«, flüsterte er aufgeregt, als hätte ein neuer Gedanke von ihm Besitz genommen. »Viele werden die Wahrheit nicht ertragen können, werden sich in Verzweiflung in den Tod stürzen. Andere werden sie für ihre Machtspiele zurechtbiegen und missbrauchen. Die Menschen sind noch nicht reif, die Wahrheit im Innersten zu begreifen! Ich werde alles verschlüsseln!«
»Was werdet Ihr verschlüsseln?«, fragte Marie leise, während sie auf nackten Füßen in seine Kammer trat. In der Hand hielt sie eine Bürste mit Wildschweinborsten. Mit kräftigen Strichen kämmte sie durch ihr Lockenhaar, das jetzt weich und geschmeidig über ihre Schultern fiel.
Nostradamus wirkte aufgewühlt. Seine Augenlider zuckten, während er sich mit zitternden Fingern durchs erhitzte Gesicht fuhr. »Die Prophezeiungen! Die Prophezeiungen, an denen ich schon seit geraumer Zeit schreibe. Ich werde sie mit einem geheimen Kode verschlüsseln, dass nur die Weisesten, die reif für die Wahrheit sind, sie verstehen werden.«
»Mit einem geheimen Kode? Wie wollt Ihr das anstellen?«
»Dieser Kode wird nur wenigen Auserwählten zugänglich sein«, flüsterte er verschwörerisch, während er lächelte. »Genauso werde ich es machen! Ganz genauso.
Ich werde mit Symbolen arbeiten, und nur wer den Sinn dieser Symbole kennt, wird den Inhalt begreifen. Dummköpfe werden sich daran versuchen, werden sie zerpflücken, neu zusammensetzen und Zahlenmethoden entwickeln, um die Bedeutung aufzubrechen, genauso wie die Elemente aufgebrochen werden, um den Stein der Weisen zu finden. Aber nur den Weisen wird sich der Sinn offenbaren.«
Marie stand immer noch barfuß mit der Bürste in der Hand an der Türschwelle. Das Kerzenlicht flackerte auf, taumelnde Schatten wischten über die grob verputzten Wände
Weitere Kostenlose Bücher