Das Geheimnis des Nostradamus
mit den schweren Holzbalken, als Nostradamus aufsprang.
»Ich werde die Prophezeiungen Centurien nennen!« Aufgebracht lief er hin und her, sein schöpferischer Geist schien sich mit der Welt der Eingebung zu verknüpfen. »Ich werde sie in hundert Gruppen von etwa hundert Versen aufteilen. Ein Vers wird aus vier Zeilen bestehen, die sich abwechselnd reimen, in einer zehnsilbigen Struktur.«
»Und alles wird mit der Zukunft zu tun haben?«
Nostradamus nickte. »Sie werden sich über eine Zukunft von über achthundert Jahren erstrecken, wenn Jupiter und Saturn einen bestimmten Zyklus vollenden, den Zyklus des Höheren.«
»Aber was ist das für ein geheimnisvoller Kode, von dem Ihr spracht?« Marie spürte, wie auch sie von dieser knisternden Unruhe angesteckt wurde.
»Es ist die grüne Sprache, die verschlüsselte Sprache der herausragendsten Alchimisten und Propheten unserer Zeit, wie Paracelsus es nannte. Nur wenige verfügen über die Fähigkeit, diese Geheimsprache zu entschlüsseln!« Nostradamus spuckte die Worte aus, als wären sie von glühender Erkenntnis umwoben.
»Und wie sieht diese Geheimsprache aus?«, fragte Marie angespannt.
Nostradamus räusperte sich kurz. Mit gehetzter Stimme fuhr er fort: »Diese Geheimsprache beruht auf einer jahrhundertealten Weissagetradition. Es ist ein ganz bestimmter Schreibstil. Worte und Strukturen werden innerhalb von Sätzen verborgen, die bereits einen Sinn aufweisen. Der Unwissende glaubt, die offensichtliche Bedeutung in einem Satz in Versform zu erkennen. In Wirklichkeit aber ist dahinter eine verborgene und verschlüsselte Bedeutung, der wahre Sinn enthalten.«
Marie nickte. »Ich verstehe. Und der lässt sich nur von jemandem entschlüsseln, der mit den Regeln dieser Sprache vertraut ist…«
Nostradamus schaute wie gebannt auf seine Papiere. »Es ist ein mehrschichtiger Schreibstil voller Andeutungen, Verdrehungen, Symbolen, der sich an die Eingeweihten eines besonderen Reiches wendet. Alles andere vermittelt nur die Illusion einer Bedeutung.«
Wie hypnotisiert griff er nach dem Gänsekiel, während der gläserne Blick seiner halb geöffneten Augen in die Ferne gerichtet war. Marie sah ihm ein paar Minuten zu, wie seine Lippen nach Worten suchten, sie formten und verwarfen. Auf Zehenspitzen schlich sie in ihr Stübchen. Ein Hauch von Sichelmond fiel durch vorbeiziehende Schleierwolken. Ganz weit in der Ferne glimmte ein Feuerschein, der teuflisch durch die Nacht blinzelte.
Schon früh am nächsten Morgen war die Kutsche angespannt. Das glänzende Fell der beiden Stuten war frisch gestriegelt, ihre Mähnen von verklebtem Dreck sauber gebürstet. Das Gepäck wurde auf dem Dach verschnürt, während Marie und Nostradamus in den geöffneten Verschlag kletterten. Michel nahm sofort wieder Papiere auf seinen Schoß, um weitere Visionen in Reime zu fassen.
»Seid Ihr heute Nacht mit Euren Notizen weitergekommen?«, fragte Marie neugierig.
Er versuchte zu lächeln. »Es sind nicht nur Notizen, die plump zu Reimen versponnen sind. Erst sehr viel später wird erkannt werden, dass in ihnen auch ein höchst kunstvolles Versmaß steckt, das so manches grauenhafte Geschehen beinhaltet.«
Marie blinzelte auf seine Schriften. »Was ist das für ein seltsames Wort: ›Americh‹?«
»Amerika? So wird einst das Land bezeichnet werden, das vor ein paar Jahrzehnten von Seefahrern im fernen Ozean entdeckt wurde. Aber ich werde es auch weiterhin Indien nennen…«
Weiter las Marie auf dem Papier: Fettes Indien …
»Es ist ein Land, das in großem Überfluss leben wird…« Nostradamus fuhr sich mit der Hand über die faltige Stirn, als wollte er hereinstürzende Bilder für einen wohltuenden Moment verscheuchen.
Marie lief es kalt den Rücken runter. Tatsächlich war mit Segelschiffen der Seeweg nach Indien entdeckt worden. Quer über den weiten Ozean waren sie gesegelt, ohne am Ende der Weltenscheibe hinunterzufallen. Wie konnte es nur sein, dass die Erde eine Kugel war, die frei im Weltall schwebte? Und wenn die kristallnen Schalen, die sich über das Firmament drehten und an denen die Planeten und Sterne befestigt waren, auch nicht existierten? Wo war die göttliche Ordnung? Wo war die schützende Hand, die über die himmlische Schöpfung gebreitet war?
»Eine verkehrte Welt«, flüsterte sie, als sie aus dem Fenster hoch ins strahlendblaue Firmament schaute, vor dem sich düstere Regenwolken unter lichthelle Zirren schoben. »Als würde alles Kopf stehen!«
In
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