Das Geheimnis des Nostradamus
sich. Noch in diesem Jahr würde auch sie dieses Alter erreichen. Aber würde sie es jemals ertragen können, mit einem wildfremden Mann das Hochzeitsbett zu teilen?
»Es muss eine überaus prunkvolle Hochzeit gewesen sein«, fuhr Nostradamus fort, während er durch das Kutschenfenster die vorbeifliegende Landschaft betrachtete. »In perlenbestickten Brokatgewändern ist die junge Katharina mit ihrem Gefolge von Italien nach Frankreich gesegelt. Die Segelschiffe waren mit purpurner Seide und schillerndem Damast ausgekleidet. Auf den Schiffsbrücken hat die päpstliche Garde in glänzenden Helmen und blitzenden Hellebarden salutiert… Aber der überfließende Reichtum, die Edelsteinketten, die blitzenden Gemmen werden sich eines Tages in Würgeschlangen verwandeln, an denen sie jämmerlich ersticken.«
Marie spürte die aufsteigende Hitze, die in seinem gebeugten Körper plötzlich hochpeitschte und ihn in wilden Aufruhr versetzte. Die Augen hatte er verdreht, nur das Weiße blitzte auf. Jetzt schrie er gellend auf, als würden seine Eingeweide mit glühenden Zangen traktiert. Mit einem ächzenden Stöhnen sackte er in einen Schwebezustand, der einer Todesstarre glich, bis er schweißüberströmt in sich zusammensackte.
»Die Feder«, keuchte er benommen, als er zitternd versuchte die Augenlider zu heben. Sie flatterten wie verängstigte Falter, denen jegliche Lebenskraft genommen war. Marie reichte ihm noch frisch geschöpftes Papier, das er ihr aus der Hand riss, um in Eile die flammenden Bilder festzuhalten, die sich schon wieder in nebligen Dunst auflösen wollten. Das Holpern der Kutschenräder ließ die schimmernde Gänsefeder immer wieder wegrutschen, als würde sie Nostradamus von Schwarzgeistern aus der Hand gerissen.
»Gib mir eine Birne«, ächzte er und langte in seinem Arztkoffer nach einem spitzen Messer, während Marie ihm eine der saftigen Früchte aus dem Korb entgegenhielt. Er legte mit zitternden Fingern die Birne so auf ein Brettchen, dass der vordere Teil darüber hinausragte. Den Früchtekorb stellte er genau darunter. Dann hob er die Hand, das blitzende Messer stürzte senkrecht auf die saftige Frucht zu und hieb ihr die Spitze mit dem Stil ab.
»So wird der König von Frankreich sterben. Sie werden ihm den Kopf abschlagen«, ächzte er, während wieder das Weiße in seinen Augen aufblitzte. »Mit einer Maschine, die sie Quillotine nennen. Ein haarfeines, schräges Messer fällt von oben herab und durchtrennt seinen Hals. Blut spritzt auf. Überall Blut. Der Kopf fällt vornüber geradewegs in einen Korb, den die Henker bereitgestellt haben. Und dann: Aufschreie! Tumult! Aufruhr! Sie stürmen das Gefängnis, wieder Blut, Flammen! Mit der Höllenmaschine jagen sie sich gegenseitig. Sie sterben. Zu Tausenden. Revolte! Umsturz! Die Königin, sie wird von der Quillotine geköpft.« Er rang nach Luft, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und ächzte wie unter quälendem Schmerz.
»Aber wann? Wann wird das sein?«, fragte Marie gehetzt.
»Ich werde es noch genau berechnen müssen, aber ich nehme an, in mehr als zweihundert Jahren.«
Nostradamus griff nach der Trinkflasche aus Ziegenleder und trank sie fast leer, als hätte er sich in einem körperlichen Wettstreit völlig verausgabt. Das gleichmäßige Trappeln der Pferdehufe und das schnalzende Antreiben des Kutschers wirkten beruhigend. Endlich sank er zurück in die Polsterkissen der Kutsche, als hätte er in die schützende Wirklichkeit zurückgefunden. Wieder versteckte Nostradamus das Schriftstück in einem ledernen Umschlag unter seinem Wams. Die Schriften waren inzwischen zu einem beachtlichen Stapel angewachsen, einem Werk, das in nächtlichem Dunkel und quälendem Schmerz geboren war.
»Ist sie denn glücklich?«, fragte Marie zaghaft, nachdem er allmählich wieder zur Ruhe gekommen schien.
»Wer soll glücklich sein?« Nostradamus schüttelte verwirrt den Kopf. Seine Stimme klang brüchig, als wäre sie von Rost zerfressen.
»Katharina von Medici«, sagte Marie vorsichtig und zwirbelte an einer der vorwitzigen Locken, die sich wieder aus ihrem fest geflochtenen Zopf gelöst hatten.
»Glück, was für ein extravagantes Wort!« Er stöhnte tief auf. »Bei solchen Vermählungen geht es nicht um Liebesglück, sondern um den Rausch der Macht, um Überlegenheit der Herrschaftshäuser. Nachkommen heiraten nicht, sie werden verheiratet.«
Marie presste eigensinnig die Lippen aufeinander. Sie würde es nie gestatten, sich von
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