Das Geheimnis des Nostradamus
fortgebracht würde, bis die Verschwörung von Challenge aufgedeckt ist.«
»Aber wir können Euch doch nicht…«, fuhr Marie aufgebracht dazwischen.
»Doch, ihr könnt!«, entgegnete Nostradamus mit energischer Stimme. »Noch wird er nicht zuschlagen! Aber du bist in Gefahr!«
Nostradamus und der Spielmann warfen sich einen kurzen, wissenden Blick zu, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Die Goldringe mit dem einziselierten »A« an ihren Fingern glänzten matt im Licht der ersten Frühlingssonne. Marie stutzte. Beide trugen wirklich die gleichen Ringe. Was hatte das zu bedeuten?
»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: Ich bin am Königshof eingeladen, bei einem Ritterturnier mit meinen Liedern für Zerstreuung zu sorgen. Was würdet Ihr davon halten, wenn mich Marie mit den anderen begleitet?«, fragte der Spielmann.
Nostradamus sah die aufblitzenden Augen von Marie und nickte. »Eine herausragende Idee! Ich bin einverstanden! Ihr reist mit der Kutsche. Und nach dem Turnier…« Plötzlich zuckte er zusammen, sein Blick flackerte. Sein Atem ging stoßweise. »Der junge Löwe…«, stammelte er. »Er wird den alten auf dem Kampfplatz besiegen. Er wird ihn ins Auge treffen, durch den goldenen Käfig…« Nostradamus taumelte, sein Gesicht war schweißnass. »Der goldene Käfig…«
»Was ist? Ist Euch nicht gut? Was ist mit dem goldenen Käfig?« Marie sprang auf und fasste nach seinem Arm, aber er schob sie mit zitternden Händen zurück.
»Nein, es ist alles in bester Ordnung. Es sind nur wieder die Gelenke…« Nostradamus rieb sich über seine Handgelenke, die in letzter Zeit immer mehr schmerzten. Und leise fügte er hinzu: »Es muss wohl so sein. Das Rad des Schicksals lässt sich von niemandem aufhalten…«
Nur zwei Wochen später standen Marie mit Lucie und Manuel dicht gedrängt zwischen Zuschauern auf einer Tribüne, die vor dem Turnierplatz des königlichen Hofes aufgestellt war. An jedem Fenster, auf hölzernen Balkons und Dachfirsten drängten sich Menschen, um dem Spektakel zuzuschauen. Sogar in Bäumen hockten Schaulustige, um nichts von dem königlichen Turnier zu verpassen.
Der Spielmann stand mit seiner Laute vor dem Ehrenplatz der Königin, der mit einem kunstvoll bestickten Baldachin überdacht war. Sein samtener Umhang wehte im sanften Frühlingswind. Die neue, mit Perlen bestickte Seidenweste schimmerte im Glanz der Nachmittagssonne auf, Feuer spuckende Vaganten, tänzelnde Schausteller und tollkühne Akrobaten wurden in bunt flimmerndes Licht getaucht. Jongleure warfen mit Augen bemalte Bälle hoch, sodass es aussah, als würden herausgequollene Augäpfel von Riesen durch die Luft wirbeln. Unter dem geschwungenen Baldachin saß Katharina von Medici auf einem hohen Stuhl, der mit blauem Samt und weißen Lilien bestickt war. Ihr strenges Gesicht war blass und zeigte keinerlei Regung. Das Haar war streng gescheitelt, im Nacken zusammengebunden und nur mit einem Perlennetz geschmückt. In dem hochgeschlossenen Kleid mit der starren, weißen Halskrause wirkte sie wie ein lebloses Bild aus der Werkstatt der Steinmetze. Die rosig geschminkte Mätresse des Königs, die Herzogin Diane de Poitiers, saß lächelnd neben ihr und fächelte sich mit einem Seidentüchlein Luft zu. Sie war ganz in den schwarz-weißen Farben ihres Ahnenwappens gekleidet. Hinter ihnen hingen an der Rückwand kunstvolle Gobelins in zarten Schmetterlingsfarben. Die Lieder des Spielmanns hallten wie ein tönendes Zauberband über den länglichen Turnierplatz, der eigens wegen der Verletzungsgefahr nicht gepflastert, sondern gleichmäßig mit Erde bedeckt war. Er war von buntbemalten Schranken geteilt, an denen die Ritter mit ihren Pferden aufeinander zugaloppieren konnten. Überall flatterten gestickte Seidenbanner, von den zahlreichen Türmchen wehten Fähnchen, Menschen winkten und johlten.
»Wann kommt denn endlich der König?«, fragte Lucie aufgeregt, als das Turnier längst im vollen Gange war. Immer wieder trafen mit lautem Krachen Ritter aufeinander, deren Lanzen auf den Schildern der Gegner zerbarsten oder die ihren Herausforderer vom Pferd stoßen konnten. Lucies Wangen waren hochrot vor Aufregung, die blauen Augen tanzten umher, als könnten sie sich nicht satt sehen an dem farbigen Spektakel. Ausgelassen winkte sie dem Spielmann zu, der neben dem herrschaftlichen Baldachin der Königin stand und ganz in sich versunken schien.
»Was nur der goldene Käfig zu bedeuten hat!« Marie schaute besorgt
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