Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
Nagelstudios in Salzgitter. Meine Haut löst sich. Die Muskeln werden sichtbar. Das Fett ist geschmolzen. Die Augen rollen aus den Höhlen und fallen klirrend auf den Boden. Ich bin blind. Nur meine Augen sehen weiter. Ich rufe: Seht ihr was? Und die Augen wollen antworten, können aber nicht. Sie haben keinen Mund. Sie sehen und sehen, aber können nicht sagen, was! Eine furchtbare Situation für zwei einsame Augen! Sie sind verstummt! Sonst hätten sie entsetzt mitgeteilt, dass unter der Sonnenbank seit Wochen nicht mehr anständig geputzt worden ist. An den feuchten, rollenden Augen bleibt der Staub kleben, mehr und mehr. In der Ecke der Kabine bleiben sie liegen, grau, verfilzt und groß wie Tennisbälle.
Ich zerfalle in meine Einzelteile. Da klopft es, und jemand fragt, ob alles in Ordnung ist. Mein Mund ruft: „Vier Tage auf der Ergoline Open Sun waren wohl ein paar Minuten zu viel!“ Dann fällt mir die Zunge raus. Die Sonnenstudiofachkraft öffnet die Tür, fegt mich zusammen und entsorgt mich in die Wertstofftonne. Ich fühle mich geehrt. Ich gehe nicht wertlos, sondern bleibe dem Kreislauf aus Werden und Vergehen verbunden. Vielleicht wird einmal eine Saftpackung aus mir! Wahrscheinlich aber werde ich bloß thermisch verwertet. Die buddhistische Variante: Verbrennung und Neustart? Wer weiß?
Die braun gebrannte Fachkraft verschenkt meine Augen an spielende Kinder vor der Tür, die die beiden Filzkugeln aber für alte Tennisbälle halten und in den Gully werfen. Gut, dass ich das Ganze nicht mehr sehen muss, denke ich, da merke ich, dass ich aufwache. Ich bin daheim und kann sehen und denken, Letzteres aber nur rudimentär. Wer bin ich? Wo? Warum? Und vor allem: Wohin?
07 40
Der gesunde Mensch ist keine einfache Maschine. Unser großer grauer Herrscher unter der Schädeldecke ist auch im gesunden Zustand gespalten, in Hypophyse, Großhirn, Kleinhirn, Mandelkern, Scheitellappen, lauter organische Bereiche, deren Zuständigkeitsbereiche sich überlappen und bekämpfen. Wie sollen da schlüssige Entscheidungen fallen?
Teile des Hirns fordern Sachlichkeit, andere spucken Botenstoffe und versuchen, der emotionalen Ödnis des frühen Morgens eine Empfindung abzutrotzen. Zunächst scheint die Ordnung zu obsiegen. Sie fordert: ein bisschen Gymnastik, Körperpflege und anschließend ein gesundes Frühstück, bestehend aus Haferflocken, Sesamkernen, einer halben Papaya, ein bisschen Ananas, einer Banane und einer Paranuss. Andere Hirnbereiche halten dagegen, sprechen widersprüchliche Befehle aus: Liegen bleiben! Jetzt erst mal zwei Stunden duschen! Reste essen, Bier dabei! Den Typen mit der Dampframme beschimpfen! Anschließend ein Café eröffnen, irgendwo, wo es warm ist!
Padumm! Padumm! Pa…! Stille. Dampframmenarbeiter beginnen den Arbeitstag gerne gegen sieben Uhr morgens, um dann gegen Viertel vor acht erst einmal eine mehrstündige Pause einzulegen, unterstützt von der Berufsgenossenschaft, dem Sicherheitsbeauftragten, derBetriebsversammlung und dem göttlichen Willen, der da lautet: Wenn alles im Umkreis von 500 Metern aus dem Schlaf gehämmert wurde, ist dein Tagewerk erledigt. Der Morgen kann beginnen.
Die Sonne ist schon da. Sie ist zuverlässig wie ein Beamter im mittleren Dienst, ein offenbar völlig fantasieloser Stern, der sich mit milliardenfachem Rotieren zufriedengibt und nun gedankenlos der letzten Kernfusion entgegenkreiselt. In fünf Milliarden Jahren ist es so weit, dann wird sich unser Zentralgestirn erst aufblähen und anschließend, von der Schwerkraft gezogen, in sich selbst zusammenfallen, um dann in einem finalen Feuerwerk zu bersten. Das gibt ein Durcheinander!
Bis dahin arbeiten wir weiterhin an der allgemeinen Ordnung. Es wird Zeit, dass ich dem neuen Tag ein Aktenzeichen zuweise.
07 41
Mein Computer liegt neben dem Bett. Aufklappen, hineinschauen. Ein Blick ins Internet verrät, ob sich die Welt noch dreht. Warum sollte man aufstehen, wenn die Sonne explodiert? Dann besser ausschlafen, Fenster schließen und Klimaanlage anstellen. Es könnte draußen heiß werden, selbst wenn es im Januar passieren sollte.
Da ich vor acht Uhr auf dem Trackpad noch keine große Treffgenauigkeit erziele, lande ich auf der Wissenschaftsseite einer überregionalen Zeitung. Überall auf der Welt kämpfen Forscher um die neuesten Erkenntnisse. Durch das Internet kann man dabei sein. „Paläontologen aus Bristol rekonstruieren das Gezirpe eines 165 Millionen Jahre alten Grillenfossils.“ Leider
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